Der Wandermoerder
beließ.
Während der Lärm am Prozesstag im Gerichtssaal in Bourg-en-Bresse stetig anschwoll, bereitete Vacher sich auf seinen Einzug vor. Die Menschenmenge war riesig und unruhig. Alle drängelten, tauschten Klatsch aus und freuten sich auf eine prickelnde Unterhaltung. Vor dem Gerichtsgebäude hatte sich ein Mob versammelt, der lautstark den Tod des Verbrechers forderte. Soldaten des 23. Regiments von der Garnison in Bourg, die für ihre Härte bekannt waren, hatten Mühe, den Pöbel in Schach zu halten.
Um 8.40 Uhr marschierte Vacher, ganz in Velours gekleidet und von Wachen umgeben, in den Saal ein. Er trug seine weiße Mütze aus Hasenpelz. Mit seinem erhobenen Haupt und den zum Himmel gerichteten Augen wollte er wohl wie ein Heiliger wirken, was allerdings gründlich misslang. Denn mit seinem zerzausten Bart, der bis unter sein Kinn reichte, sah er eher teuflisch aus. Die Tatsache, dass sein rechtes Auge wegen einer Lähmung halb geschlossen war, führte dazu, dass die Emotionen, die das linke ausstrahlte, noch stärker zur Geltung kamen. Das gesunde Auge rollte hektisch hin und her, sodass Vacher abwechselnd wild oder verzweifelt wirkte. Dank seiner krallenartigen Fingernägel und der hyperaktiven Gliedmaßen glich er weniger einem Märtyrer als einem schwer zu bändigenden Tier. Er fuchtelte mit einem zusammengerollten Papierbündel herum und rief: »Ehre sei Jesus! Lang lebe Johanna von Orl é ans! Ehre dem großen Märtyrer unserer Zeit! Ehre dem großen Erlöser!« Dann ohne Zusammenhang: »Wer nur die Glocke läuten hört, hört nur ein Geräusch.«
Das Publikum begann zu lachen und Gesten in Richtung Pressetribüne zu machen. Dann nahm Vacher auf einer Plattform Platz, die von einem hüfthohen Geländer umgeben war. Um neun Uhr verkündete der Gerichtsdiener schließlich: »Das hohe Gericht! Hüte herunter!«
Vacher fummelte kurz an seiner Mütze herum, als der Gerichtspräsident Adhémar de Coston in seiner traditionellen roten Robe eintrat. Dieser hatte den Lärm bereits gehört und war keinesfalls gewillt, irgendein respektloses Verhalten zu dulden. »Hören Sie gut zu«, ermahnte er Vacher und starrte ihn streng an, »ich dulde keinerlei Gewalt in diesem Saal. All Ihre provozierenden Gesten und Verhaltensweisen nützen Ihnen hier nichts. Sie werden sich nicht aufführen, wie Sie sich oft im Gefängnis benommen haben. Bei Bedarf werde ich die ganze Macht des Gesetzes einsetzen und Sie erforderlichenfalls sogar fesseln lassen. Vergessen Sie das nicht.«
Vacher blieb stumm. Dann wandte sich de Coston an das Publikum und warnte es vor ungebührlichem Benehmen. »Ich sehe auch einige Damen im Saal«, fügte er dann hinzu, »und möchte Sie darauf hinweisen, dass während dieses Verfahrens einige Dinge zur Sprache kommen werden, die für weibliche Ohren nicht geeignet sind. Darum rate ich Ihnen zu gehen.«
»Wir warteten mehrere Minuten«, schrieb ein Reporter, »doch niemand ging, und dann lachten alle.«
Im französischen Justizsystem spielt der Richter eine viel aktivere Rolle als im angloamerikanischen. Er ist eher ein Inquisitor als ein Schiedsrichter. (Das französische und das kontinentale System wird »inquisitorisch«, das angloamerikanische »adversarisch« genannt.)
Als »Gerichtspräsident« befragt er Zeugen und Angeklagte auf der Grundlage der Akte, die der Untersuchungsrichter dem Gericht vorlegt. Staatsanwälte und Verteidiger sagen relativ wenig. Sie halten ein Eröffnungs- und ein Schlussplädoyer, stellen den Zeugen Fragen und können im Laufe des Verfahrens ergänzende Informationen anbieten oder ablehnen. Der Präsident sammelt durch seine Fragen Tatsachenmaterial, das die Anwälte dann für die neun Geschworenen interpretieren.
Im inquisitorischen System wird in der Regel zuerst der Angeklagte vernommen, während er im adversarischen System, wenn überhaupt, am Ende der Verhandlung aussagt. De Coston hatte für den Prozess drei Tage anberaumt. Am ersten Tag wollte er Vacher vernehmen und am zweiten mit der Befragung der 49 geladenen Zeugen beginnen, unter ihnen auch Vachers Bekanntschaften aus der Kindheit, Regimentskameraden und Leute, denen er als Vagabund begegnet war. Am dritten Tag wollte der Präsident dann die ärztlichen Gutachter zum Geisteszustand des Angeklagten befragen.
Der Gerichtsdiener verlas nun die Anklageschrift. Das lange, weitschweifige Dokument berichtete vom Mord an Victor Portalier, der Entdeckung seiner Leiche, den Sichtungen Vachers in der Gegend,
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