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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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umgekehrt: Wie konnte er zehn Morde unberücksichtigt lassen, obwohl die Muster dieser Taten bei sorgfältiger Prüfung möglicherweise einen Schluss auf den Geisteszustand des Täters zuließen?
    Charbonnier verwies darauf, dass man jedoch selbst innerhalb dieses eng gesteckten Rahmens Hinweise auf Vachers Unzurechnungsfähigkeit finden könne. Er führte die Aussagen ehemaliger Regimentskameraden an, die Vacher als »manisch«, »gestört« und »abnormal« bezeichnet hatten. »Wir hielten ihn für verrückt«, hatte einer der Soldaten gesagt. Charbonnier zitierte auch aus einem Brief, den Vacher seinen Freunden geschrieben hatte. »Wer würde nach der Lektüre dieses Briefes ernsthaft behaupten, dass Vacher geistig gesund sei?«, fragte er. Außerdem druckte er in seiner Abhandlung das medizinische Gutachten von Dr. Guillemin aus der Nervenheilanstalt in Dole ab, das zu dem Schluss kam, dass Vacher an »Anfällen geistiger Umnachtung« leide und »für sein Handeln nicht verantwortlich« sei. Ein Abschnitt der Schrift war dem Bericht gewidmet, den Dr. Dufour in der Anstalt Saint-Robert erstellt und der Vacher für geheilt erklärt hatte. Charbonnier behauptete, dass dieser Bericht auf falschen Annahmen basiere. Er zitierte aus einer eidesstattlichen Erklärung, in der Dr. Dufour einräumte, nach Vachers Einlieferung keine Ahnung von der Schwere seiner Krankheit gehabt zu haben, weil die Krankenakte des Patienten nur unvollständig gewesen sei. Aufgrund dieser Akte und seiner Gespräche mit Vacher war Dufour zu dem Schluss gekommen, dass der Patient an einer Depression litt, die seine gelöste Verlobung verursacht habe, aber gewiss nicht zu Tötungsdelikten neige. Da er keine Informationen über Vachers Vergangenheit und sein gewalttätiges Verhalten in Dole hatte, konnte Dufour nicht erkennen, wie gefährlich der Mann war, den er behandelte. Daher genügte es ihm für die Anordnung der Entlassung, dass Vacher nach einiger Zeit gesund wirkte .
    Nachdem er seine Belege für Vachers Unzurechnungsfähigkeit geliefert hatte, wandte sich Charbonnier den Fachärzten zu, die seiner Ansicht nach weniger als Wissenschaftler denn als angeheuerte Söldner aufgetreten waren. Als er die Berichte Lacassagnes und seiner Kollegen analysierte, fand er zahlreiche Beispiele von Voreingenommenheit, zum Beispiel Begriffe wie »Vampir«, »Kannibale«, »asozial« und »Anarchist«. Er kritisierte auch Lacassagnes wichtigste Aussage, nämlich dass Vachers methodisches Vorgehen eine Geisteskrankheit ausschließe. War diese Behauptung wissenschaftlich wirklich haltbar? Mehrere Jahre zuvor hatte Lacassagne noch das Gegenteil behauptet. Im Jahr 1888 war ein Arzt namens Lamotte wegen Vergewaltigung von drei Kindern – Patienten von ihm – angeklagt worden. Der Arzt war eindeutig geistesgestört. Er konnte sich beispielsweise nicht an die Namen seiner eigenen Kinder erinnern und war nicht in der Lage, zu addieren und zu subtrahieren. Dennoch behauptete der Staatsanwalt, der Arzt sei schuldfähig, weil er mit seinen Opfern Termine vereinbart habe, was auf Planung hindeute und dies wiederum auf Vorsatz. Als die Geschworenen den Arzt schuldig sprachen und ihn auch für zurechnungsfähig erklärten, widersprach Lacassagne und erklärte, dass manche Geisteskranke zwar fähig seien, etwas zu planen und Recht von Unrecht zu unterscheiden, aber sie könnten bestimmten Trieben nicht widerstehen. Und dies, sagte er, mache sie zu schuldunfähigen Geisteskranken. Laut Charbonnier hätte Lacassagne nach dieser Theorie auch Vacher für schuldunfähig erklären müssen. Warum aber hatte der Facharzt so viel Verständnis für Dr. Lamotte und so wenig für einen Vagabunden wie Vacher? Zweifellos wegen der Schwere der Verbrechen. »Es scheint, dass die Experten sich trotz ihrer großen Verantwortung von der öffentlichen Meinung beeinflussen lassen«, schrieb er. Besonders absurd sei zudem die Behauptung der Experten, »Vacher habe nicht wie ein Geisteskranker gemordet … als wäre es absolut normal für einen Menschen, Kehlen durchzuschneiden und Leichen auszuweiden und zu verstümmeln … ohne Motiv.«
    Charbonnier stand mit seiner Meinung nicht allein. Dr. Édouard Toulouse, der medizinische Direktor der Nervenheilanstalt Villejuif in Paris und prominenter Gegner der Todesstrafe, verfasste einen Brief, in dem er Charbonnier unterstützte: »Es ist unbedingt notwendig, diesen Geisteskranken zu begnadigen.« Auch andere Nervenärzte stellten sich auf die

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