Der Wandermoerder
Hals-Nasen-Ohren-Facharzt arbeite er an einer Theorie, wonach bestimmte Schäden am Innenohr irgendwie eine Geisteskrankheit auslösen könnten. »Meiner Meinung nach hätte man alle Verbrechen möglicherweise verhindern können, wenn die Kugel aus Vachers Kopf entfernt worden wäre.« Wolle der Präsident wirklich einen zweiten Fall Menesclou erleben und erst nach der Autopsie erfahren, dass der Mörder doch geisteskrank gewesen sei? Wolle er tatsächlich für ein solches Urecht verantwortlich sein?
»Das reicht!«, ermahnte ihn der Richter. »Beantworten Sie bitte einfach meine Fragen.«
Madeuf kritisierte als Nächstes die Rückständigkeit der Gerichtsmedizin. Er habe sich in das Gefängnis geschlichen und den Häftling untersucht, um »der französischen Medizin einen Dienst zu erweisen«. Das Problem sei bedeutender als der Fall Vacher. Studien wie diese könnten möglicherweise »das Entstehen künftiger Vachers« verhindern helfen.
Es war ein leidenschaftliches und, im Rückblick betrachtet, auch gutes Plädoyer, aber der Richter, die Geschworenen und die Zuschauer nahmen es offensichtlich nicht ernst. Die Leute saßen stumm da, als Madeuf den Zeugenstand verließ, nur Vacher applaudierte.
Als der Tag weiter voranschritt, wurde Vacher zusehends müde und apathisch. Er hörte den wenigen restlichen Zeugen mit zerstreuter Miene zu, ohne jegliche Gesten oder mimische Verrenkungen. Um vier Uhr begann dann Ducher sein Schlussplädoyer für die Anklage. Mit feierlichem Gesichtsausdruck und »großer Gestik, die sorgfältig einstudiert wirkte«, bezeichnete er Vacher als »wohl schlimmsten Verbrecher der Geschichte«. Er rief der Jury die Lebensgeschichte des Angeklagten in Erinnerung, von seinen frühen Jahren als bösartiges Kind bis zu seinen Verhaltensstörungen während der Jugendzeit und seiner Gewalttätigkeit beim Militär. Ducher erwähnte auch die Schüsse auf Louise und dass Vacher danach eine Geisteskrankheit simuliert habe. Als Vacher ihren Namen hörte, erwachte er zum Leben. Er nahm seine Mütze ab, zerknüllte sie und holte aus, um sie nach Ducher zu werfen. Sofort griffen die Wärter ein. Während des folgenden Handgemenges ging die Mütze aus Hasenpelz kaputt. »Seht nur, was ihr getan habt«, jammerte Vacher. Der Richter warnte ihn, dass er die Wärter anweisen werde, ihm Handschellen anzulegen, wenn er sich nicht beruhige. »Das wäre mir lieber als eine zerrissene Mütze«, schrie Vacher.
Ducher fuhr mit seiner Zusammenfassung fort. Er erinnerte die Geschworenen an Vachers Aufenthalt in den Nervenheilanstalten, wo er – egal, ob er geisteskrank gewesen war oder nur simuliert hatte – mit einem Dokument entlassen worden war, das ihn für geheilt erklärt hatte. Dann kam Ducher noch einmal auf den Mord an Victor Portalier und die übrigen Verbrechen zurück und verwies auf die kriminalistischen Befunde. »Alle zeigen die gleichen Merkmale und tragen die Handschrift eines Ungeheuers«, resümierte er. »Jede Tat erforderte Kaltblütigkeit und eine erstaunliche Geistesgegenwart bei der Vorbereitung und Durchführung.«
Ducher erwähnte auch, was Vacher bei seinem ersten Geständnis gegenüber Fourquet gesagt hatte: Er hoffe, dass bereits die bloße Anzahl seiner Verbrechen seine Geisteskrankheit beweisen werde. »Als er merkte, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllte, verlegte er sich auf totales Schweigen und begann, sich geisteskrank zu stellen, wenn auch ungeschickt und mit wenig Überzeugungskraft.«
Vacher sei nicht verrückt, schloss Ducher, sondern ein berechnendes Raubtier, »das so viel Blut vergossen und so viele Tränen verursacht hat. Sie sind seine Richter, Sie haben alle Beweise geprüft. Nun urteilen Sie bitte ohne Mitleid, verehrte Geschworene. Das haben seine Opfer verdient, und das ist Ihre Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Sprechen Sie das Urteil, das die Gesellschaft verlangt, ohne Mitleid!« Ducher hatte anderthalb Stunden gesprochen.
Das Publikum applaudierte lange und begeistert, obwohl der Gerichtspräsident versuchte, es zu beruhigen.
Jetzt war Charbonnier an der Reihe. Seine sonore, wunderbar gefühlvolle Stimme »beeindruckte jeden«, schrieben Reporter. Er deutete auf Vacher und rief: »Das ist kein großer Verbrecher, sondern ein armer kranker Mann, mit dessen Verteidigung ich beauftragt wurde. Und obwohl wir uns drei Tage lang mit blutigen Grausamkeiten beschäftigt haben, fehlt immer noch der Beweis dafür, dass er voll schuldfähig ist.«
Wie Ducher
Weitere Kostenlose Bücher