Der Wandermoerder
Stunden lang und beeindruckte alle mit seiner Intelligenz und Menschlichkeit. Er bat die Geschworenen, ihren natürlichen Wunsch nach Rache zu überwinden und der Gerechtigkeit auf einer höheren Ebene zu dienen. »Ich verlange nicht nur für eine einzelne Person Gerechtigkeit, sondern auch für die Ehre seiner Familie und seiner 14 Geschwister.« Die Geschworenen dürften keinesfalls denken: »Das ist eine wilde Bestie, die wir beseitigen müssen.« Sie sollten vielmehr ihr Bedürfnis nach Gerechtigkeit mit Vernunft verbinden. »Vacher war geisteskrank, vielleicht ist er es immer noch, und Sie haben kein Recht, diese Tatsache im Interesse der Gesellschaft zu ignorieren.« Er bat daher die Geschworenen, kein Todesurteil zu verhängen, erklärte aber zugleich, dass er Verständnis dafür habe, dass sie einen verrückten Mörder nicht gerne in eine staatliche Heilanstalt mit fragwürdigen Sicherheitsstandards einweisen wollten. Daher beantragte er, seinen Mandanten zu lebenslanger Zwangsarbeit im Gefängnis zu verurteilen. Schließlich erinnerte er die Geschworenen daran, dass »das Gericht kein Schlachthof ist, sondern ein Ort, an dem über Menschen Recht gesprochen wird«. Als er wieder Platz nahm, war es 21 Uhr.
Im französischen Gerichtssystem beantworten die Geschworenen nicht nur die Frage nach schuldig oder nicht schuldig, sondern erhalten vom Richter auch eine Liste mit Fragen, die sie durchdenken sollen. Diese Liste ist oft ziemlich lang – aber im Fall Vacher war sie kurz. De Coston stellte den Geschworenen nur zwei einfache Fragen: Hat Vacher Victor Portalier am 31. August 1895 getötet? Hat er die Tat vorsätzlich begangen?
Letztlich drängten das Entsetzen über die Verbrechen und die Autorität der Experten Charbonniers Redegewandtheit und seinen Appell an die Menschlichkeit bei den Geschworenen in den Hintergrund. Gewiss spielte auch die Visualisierung durch die gerichtsmedizinischen Abbildungen eine Rolle wie auch die damals vorherrschende Überzeugung, dass die Justiz vor allem die Gesellschaft schützen müsse. Es dauerte nur 15 Minuten, bis die Geschworenen mit ihren Antworten auf die Fragen des Richters zurückkehrten: Ja, Vacher hatte gemordet, und ja, er hatte vorsätzlich gehandelt. Wie Ducher es verlangt hatte, hatten die Geschworenen ohne Mitleid geurteilt oder besser gesagt: Sie sparten sich ihr Mitleid für die Opfer auf. Der Richter wandte sich nun an den Angeklagten: »Haben Sie noch etwas zu sagen, Vacher?«
»Verurteilen Sie mich zum Tod?«
»Für Sie wurde die Todesstrafe beantragt.«
»Dann soll es so sein«, fügte Vacher ruhig hinzu. »Ich sage nur: Verflucht seien diejenigen, die mich verurteilen.«
Als die Menge draußen die Nachricht hörte, begann sie lautstark zu jubeln und »Tod! Tod!« zu schreien. Die Menschen drängten gegen die Soldaten, die eine Kette zur Absperrung bildeten. Auch im Gerichtssaal lärmten und applaudierten die Zuschauer. Als man Vacher aus dem Saal führte, drehte er sich noch einmal um und schrie: »Auf Wiedersehen!«
Ein Reporter des Petit Bourguignon folgte Vacher zurück in seine Zelle. Er berichtete, dass der Verurteilte sich auf seine Bank gesetzt und ein paar Minuten später um sein Abendessen gebeten habe, das er mit gutem Appetit verspeist habe. Dann habe er sich hingelegt und seine kaputte Mütze bejammert. »Diese Bastarde haben also alles für mich entschieden. Meine arme Mütze, von allem, was sie mir angetan haben, tut das am meisten weh, denn ich bin etwas abergläubisch … Und dann mein Verteidiger! Es war nicht schlau von ihm, die ›großen Prinzipien der Revolution‹ anzusprechen. Dadurch hat er bewirkt, dass sie gegen mich waren. Es wäre besser gewesen, von Jesus Christus zu sprechen … Aber egal, das kümmert mich nicht, weil ich genauso zum Tode verurteilt wurde wie seinerzeit Er!« Dann drehte er sich zur Seite. Augenblicke später hörte der Journalist ihn rhythmisch schnarchen.
Einundzwanzig Die Frage der Zurechnungsfähigkeit
Sofort nach dem Urteil begann Charbonnier an der Berufung zu arbeiten. Er veröffentlichte eine fünfundvierzigseitige Schrift, in der er die Fehler der Anklage auflistete, und schickte sie ans Justizministerium. Außerdem verteilte er sie an die Presse. Seiner Meinung nach war schon die Prämisse der Anklage falsch. Wie konnte der Richter einen Mann wegen eines einzigen Mordes vor Gericht stellen, aber ausgewählte Ermittlungsergebnisse zulassen, die zehn andere Verbrechen betrafen? Oder
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