Der Wandermoerder
fasste auch Charbonnier Vachers Lebensgeschichte noch einmal zusammen, stellte dabei jedoch ganz andere Aspekte in den Vordergrund. Viele Geschichten über die Kindheit des Angeklagten seien übertrieben. Und was Vachers Militärzeit anbelange, so sei Vacher ein »guter Soldat« gewesen, der befördert und ehrenhaft entlassen worden war. »Wie konnte aber dieser Mann, der so stolz auf sein Feldwebelabzeichen war, zu einem Vagabunden werden, der betteln musste? Ist das etwa nicht ein klarer Hinweis darauf, dass mit seiner geistigen Gesundheit etwas nicht stimmte?«
Vacher hörte zu und schluchzte dabei gelegentlich.
Dann verwies Charbonnier auf die grobe Behandlug, die Vacher in den Anstalten erfahren habe, und offenbarte seine Zweifel daran, dass sein Mandant geheilt worden war. Er kritisierte Dr. Dufours Beschluss, Vacher zu entlassen. Vielleicht war Dufour ja so sehr mit anderen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, dass er sich nicht hinreichend mit Vacher hatte befassen können. »Wurde er wirklich geheilt?«, fragte Charbonnier. »Können Sie das beurteilen? Wo ist der Beweis dafür?« Womöglich hatte er ja nach seiner Entlassung einen Rückschlag erlitten.
Der Anwalt führte die Geschworenen durch jeden Mord und wies auf Schwachpunkte der Anklage hin. »Gewiss, alle Verbrechen wurden nach einem festen Schema begangen«, doch gerade das spreche doch eher für einen geisteskranken Täter als für einen gesunden. Er riet den Geschworenen, vorsichtig zu sein, denn auch Experten könnten Fehler machen, selbst der angesehene Dr. Lacassagne. Dieser habe einmal von einer anthropologischen Gesellschaft einen Schädel zur Untersuchung erhalten, den er dann als Schädel einer Frau identifiziert habe. In Wirklichkeit sei es aber der Schädel eines alten Mannes gewesen.
Dann brachte Charbonnier ein interessantes Argument vor. Bei dieser Verhandlung gehe es um das fünfte Verbrechen in Vachers Mordserie, das er ein Jahr und fünf Monate nach seiner Entlassung aus der Anstalt Saint-Robert begangen habe. Doch wie sähe es aus, wenn über seine erste Tat verhandelt worden wäre, also über den Mord an Eugénie Delhomme? Dieses Verbrechen hatte er nur ein paar Wochen nach seiner Entlassung verübt. Würde ein Mord so kurz nach seiner Entlassung nicht darauf hindeuten, dass er niemals geheilt worden war, sondern immer noch krank gewesen war, als er die Frau überfallen hatte? Und falls er bei diesem ersten Mord geisteskrank gewesen war, vielleicht war er dann ja auch bei allen folgenden krank gewesen.
Dies war nicht der erste Prozess, in dem die Frage des Zeitpunkts angesprochen wurde. Acht Jahre zuvor war James Dougherty aus der Nervenheilanstalt Flatbush in Brooklyn, New York, geflohen. Mehrere Wochen später war er zurückgekehrt und hatte den Direktor erschossen. Als er vor Gericht gestellt wurde, erhob die Gerichtsmedizinische Gesellschaft von New York Einwände. Es sei absurd, einem entflohenen Geisteskranken den Prozess zu machen, der wenige Wochen zuvor noch offiziell für geisteskrank erklärt worden war. »Hätte er den Mord als Insasse begangen, wäre er wohl kaum vor Gericht gestellt worden«, hieß es in einem Leitartikel der Zeitschrift dieser Organisation. Das Gericht verurteilte ihn schließlich zu lebenslanger Verwahrung in einer Heilanstalt.
Mittlerweile beschäftigten sich immer mehr europäische Fachärzte mit der Frage, wie und wann man einen Geisteskranken für geheilt erklären konnte. Denn eine zunehmende Anzahl von Verbrechen wurde von ehemaligen Patienten oder Flüchtlingen aus Nervenheilanstalten begangen. Auch die Annales médico-psychologiques veröffentlichten eine monatliche Kolumne über die Verbrechen von aliénés en liberté (Geisteskranken auf freiem Fuß). Fachverbände debattierten ausführlich darüber, wie man feststellen könne, ob ein Geisteskranker auch tatsächlich geheilt war. In Großbritannien, dem einzigen Land mit einem Gefängnis für Schuldunfähige, wurden die Insassen für unbestimmte Zeit (»nach Gutdünken der Königin«) inhaftiert, was oft lebenslange Verwahrung bedeutete. In Frankreich, den USA und vielen anderen Ländern waren die Anstaltsleiter für die Begutachtung zuständig, und dies hatte häufig gefährliche Folgen für die Gesellschaft, weil es dafür keine klaren Richtlinien gab. Charbonniers Argument war also nicht nur interessant, sondern es sprach auch einige der tiefsten Ängste der Gerichtsmediziner seiner Zeit an.
Charbonnier redete dreieinhalb
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