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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war«. Statt der Todesstrafe empfahlen sie daher lebenslange Zwangsarbeit. Das war ein sonderbarer Kompromiss. Denn obwohl sie die Geisteskrankheit des Täters anerkannten, berücksichtigten sie nicht Artikel 64 des französischen Strafgesetzbuchs, wonach ein Verbrechen als nicht begangen galt, wenn der Beschuldigte zurzeit der Tat geisteskrank war. Die Gutachter versuchten, diese Bestimmung zu umgehen: Sie räumten ein, dass Vacher geisteskrank war, wollten aber die Bürger vor ihm schützen.
    Dieser Kompromiss war unhaltbar. Präsident Faure wusste, dass Vacher fliehen konnte, und in diesem Fall würde das Volk nicht nur Vachers Hinrichtung fordern, sondern auch – im politischen Sinne – die des Präsidenten. Darum beschloss Faure, »der Gerechtigkeit ihren Lauf« zu lassen, und folgte dem Rat der Beamten nicht. Jetzt waren keine Berufung und keine Begnadigung mehr möglich. Die Hinrichtung wurde deshalb auf den 31. Dezember 1889 in Bourg-en-Bresse anberaumt. Sie sollte auf einem Feld wenige Straßen vom Gerichtsgebäude entfernt erfolgen, wo normalerweise die Armee exerzierte.
    Louis-Antoine-Stanislas Deibler war in der französischen Öffentlichkeit nie besonders beliebt, obwohl niemand bezweifelte, dass man ihn brauchte. Als oberster Scharfrichter des Landes befreite er schließlich die Gesellschaft von einigen gefährlichen Elementen. Im Laufe seiner fünfundvierzigjährigen Karriere hatte er mehr als 150 Verbrecher hingerichtet, davon fast 80 zusammen mit seinem Sohn, der später sein Nachfolger wurde. Er enthauptete Mörder wie Michel Eyraud, den Verbrecher mit dem blutigen Koffer, und Victor Prévost, einen Polizisten, der einen Juwelier und dessen Frau umgebracht hatte und dabei ertappt worden war, wie er ihre Leichenteile in ein Abflussrohr gestopft hatte. Deibler ließ das Fallbeil auch auf die gefährlichsten Terroristen seiner Zeit herabsausen. Dennoch hielten ihn die Leute nicht gerade für einen Künstler in seinem Fach. Mit seinem Bart, dem Zylinder, dem altmodischen Mantel und dem Schirm als stetigem Begleiter wirkte er immer mürrisch. Zudem war er unbeholfen und langsam. Bei seinem ersten Auftritt als oberster Henker machte er einen unsicheren Eindruck. Der Verurteilte wehrte sich so heftig, dass Deibler keine andere Wahl hatte, als ihn am Haar zu packen, seinen Kopf mehrere Male auf den Boden zu schlagen und den betäubten Gefangenen dann in die Apparatur zu legen. Von da an blieb der Ruf an ihm haften, ein Tölpel zu sein.
    Im Jahr 1897 vollzog der vierundsiebzigjährige Deibler eine Routinehinrichtung, aber der Verbrecher lag so schief auf dem Schafott, dass sein Blut dem Scharfrichter ins Gesicht spritzte, als das Fallbeil fiel. Danach war Deibler nicht mehr derselbe. Er bekam panische Angst vor Blut und wusch sich zwanghaft die Hände, um die imaginären Flecken zu entfernen. Im Dezember 1897 ging er schließlich in Pension. Doch Vacher war so wichtig, dass die Regierung ihn für eine allerletzte Hinrichtung in seiner beruflichen Laufbahn zurückholte.
    In gewissem Umfang spiegelte Deiblers Unbeliebtheit eine zunehmende Abneigung gegen die Todesstrafe wider. Sozialwissenschaftler bezweifelten die moralische Wirkung öffentlicher Exekutionen, und allmählich entstand eine Bürgerbewegung, die ihre Abschaffung forderte. Die Todesstrafe, die einst wegen der unterschiedlichsten Straftaten verhängt worden war – politische Hetze, Diebstahl, Anschläge auf Züge –, wurde nun kaum noch ausgesprochen und wegen mildernder Umstände oft nicht vollstreckt. Anfang des Jahrhunderts gab es noch über 70 Hinrichtungen jährlich, um die Jahrhundertwende, als Vacher verurteilt wurde, waren es nur noch vier oder fünf im Jahr. Trotzdem hatte die Todesstrafe noch viele Anhänger. Aber selbst sie suchten nach Wegen, die Strafe humaner zu vollstrecken. Gewiss, die Guillotine war sicher und schnell, aber ließ sie die Verurteilten vielleicht doch unnötig leiden, und sei es auch nur für einen Augenblick? Zeugen hatten beobachtet, dass das Gesicht geköpfter Verbrecher zuckte. Möglicherweise war das Gehirn also noch so aktiv, dass der Hingerichtete sich einen Moment lang seines Schicksals bewusst war. 15 Experimente mit Labortieren in der Folgezeit zeigten jedoch, dass solche Bewegungen nichts weiter als Reflexe waren und nicht mit Bewusstsein oder Schmerzen verbunden waren.
    Mittlerweile war in den USA ein neuer Apparat entwickelt worden, der eine modernere Art der

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