Der Wandermoerder
Hinrichtung zu ermöglichen schien. Nach einer Serie von stümperhaften Hinrichtungen durch Erhängen im Jahr 1886 in New York hatte der Gouverneur eine Kommission einberufen, die eine humanere Hinrichtungsmethode aussuchen sollte. Damals vermarkteten Thomas Edison und George Westinghouse gerade unterschiedliche Verfahren der Stromverteilung. Edison verwendete Gleichstrom, Westinghouse bevorzugte Wechselstrom. Da Edison das System seines Rivalen gerne als gefährlich brandmarken wollte, veröffentlichte er im Rahmen einer Kampagne Berichte über Todesfälle durch Wechselstrom. Ein Ingenieur aus New York hörte von den Berichten und begann daraufhin, in Edisons Labor an einer effizienten Hinrichtungsmethode zu arbeiten. Das Ergebnis war ein schwerer Holzstuhl mit elektrischen Kontakten, die am Kopf und am Kreuz angebracht wurden und mehr als 1000 Volt Wechselstrom durch den Körper leiteten.
Die erste Hinrichtung auf diesem elektrischen Stuhl erfolgte am 6. August 1890 im New Yorker Auburn-Gefängnis. William Kemmler wurde wegen Mordes an seiner Geliebten exekutiert. Man benötigte dafür zwei 1300 Volt starke Stromstöße, die mehrere Minuten andauerten und bei den Beobachtern Übelkeit auslösten. Ein Jahr später wurden vier Mörder in New Yorks Sing Sing effizienter hingerichtet, und bald schon war der elektrische Stuhl in den USA obligatorisch.
Die Europäer schreckten vor dieser neuen amerikanischen Technik jedoch zurück. Henri Coutagne, ein Kollege Lacassagnes, fürchtete, dass die Auswirkung dieses Apparates – eine spastische Lähmung des Körpers – derart harmlos wirke, dass sie potenzielle Mörder nicht abschrecken werde. Lombroso fand es grausam, einen Gefangenen minutenlang in Todesangst warten zu lassen, bis die Riemen und Elektroden befestigt waren. Er schlug stattdessen eine Überdosis Chloroform oder Äther vor, was »nach langen und angenehmen Halluzinationen zum Tod durch Ersticken« führe. Der Kaplan des Gefängnisses La Roquette in Paris fand den elektrischen Stuhl abstoßend. War es nicht viel einfacher und besser, mit dem Verurteilten zur Guillotine zu gehen, dabei seine Gebete und letzten Geständnisse zu hören und zu wissen, dass das Ende schnell kommen würde? Welchen Trost konnte er aber einem Gefangenen bieten, der etliche Minuten an den Stuhl gefesselt war?
Diese Hinrichtungsmethode ist abstoßend und ekelt mich an. Ich würde es niemals billigen, dass man Menschen, selbst Verbrecher, tötet wie arme Tiere, die in einer Glasglocke auf den Tod durch einen elektrischen Funken warten. Das verstößt gegen die Gebote der Menschlichkeit und der Religion. Man darf einen Menschen in seinen letzten Augenblicken nicht daran hindern, sich vor dem Tod zu sammeln.
Lacassagne, den die Technik faszinierte, schrieb eine Abhandlung über alle bis dahin in Amerika erfolgten Hinrichtungen, wobei er Stromstärken, Kontaktzeiten und Obduktionsergebnisse aufzeichnete. Er wies darauf hin, dass für die erste Exekution zwei Stromstöße benötigt worden waren und dass Hasen, die im Labor durch Stromstöße getötet wurden, manchmal durch künstliche Beatmung wiederbelebt werden konnten. Daraus schloss er, dass diese Methode zwar vielversprechend, aber wohl nicht so narrensicher sei, wie die Amerikaner glaubten. Also blieb die Guillotine das Werkzeug der Wahl.
Der 31. Dezember 1898 war in Bourg-en-Bresse kein Tag, an dem man gerne aufstehen wollte, und dies schon gar nicht, wenn es der letzte Tag auf Erden war. Das Wetter war schlecht, es war kalt, und Schneeregen fiel aus schweren grauen Wolken. Doch das Wetter hinderte Tausende von Menschen nicht daran, sich auf den Champs de Mars, dem Schauplatz der Hinrichtung, zu versammeln. Stunden vor der Morgendämmerung hatten Deibler und seine Helfer damit begonnen, im flackernden Laternenlicht die Guillotine aufzustellen.
Exekutionen lockten seit jeher den übelsten Pöbel an. Seit Jahren drängten Juristen das Justizministerium schon, alle Hinrichtungen in Gefängnissen vorzunehmen, doch sie wurden von all jenen überstimmt, die glaubten, dass öffentliche Hinrichtungen eine abschreckende Wirkung hätten. Immerhin setzten die Juristen durch, dass für die Exekutionen nicht mehr geworben wurde und dass sie kurzfristig festgesetzt und zu ungelegenen Zeiten vollzogen wurden.
Dennoch tummelten sich an diesem Tag etwa 3500 Zuschauer auf dem 200 Quadratmeter großen Feld. Sie standen Schulter an Schulter, viele waren auch auf einen Kastanienbaum geklettert, um
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