Der Wandermoerder
Seite des Verteidigers, darunter Dr. Lombroso, der Vacher als Epileptiker einstufte, und Dr. Bonne, der damalige Direktor der Nervenheilanstalt Saint-Robert. In der Zeitschrift Opinion médicale feuerte ein Dr. Fourchon eine Breitseite auf das Gericht und Lacassagne ab und lobte Dr. Madeuf dafür, dass er dem »Wutanfall« des Richters getrotzt und es gewagt habe, den Gutachten der Fachärzte zu widersprechen.
Lacassagne reagierte nicht auf diese Kritik, denn er verstand sich als medizinischen Experten, der wissenschaftliche Erkenntnisse präsentierte und über solchen Streitereien stand. Ducher aber warnte das Justizministerium davor, sich von den Beschimpfungen des Verteidigers oder von Vachers Theatralik täuschen zu lassen:
Mir fällt es nicht schwer zu glauben, dass Vacher nie geisteskrank war, sondern seit 1893 [nach den Schüssen auf Louise Barant] Geisteskrankheit vorgetäuscht hat. Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass er nicht unter einem unwiderstehlichen Zwang stand, als er das Verbrechen in Bénonces beging. Er war sich seines Tuns voll bewusst, traf alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen und gab seinen sexuellen Perversionen nach mit dem Ziel, seine entsetzlichen Leidenschaften zu befriedigen. Daher bin ich der Meinung, dass Vacher nicht die geringste Nachsicht verdient und … hingerichtet werden sollte.
Generalstaatsanwalt Moras schrieb einen achtundsechzigseitigen Bericht, in dem er peinlich genau alle Beweise auflistete und nicht das geringste Verständnis für die Behauptung aufbrachte, Vacher sei geisteskrank. De Coston schickte einen langen und zornigen Bericht nach Paris und erklärte, es sei »für Experten und unerfahrene Beobachter gleichermaßen offensichtlich«, dass Vacher seine Geisteskrankheit simuliert habe. Die Schuldfähigkeit des Mörders sei »von drei bedeutenden Experten bestätigt, in der Verhandlung und durch die Erörterungen nachgewiesen und von den Geschworenen im Urteil korrekt wiedergegeben« worden. De Coston wies darauf hin, dass die Angelegenheit Folgen habe, die weit über den Gerichtssaal hinausgingen. Vacher habe mit seiner Mordserie ein ganzes Land terrorisiert, und »die Gräueltaten, die menschliches Vorstellungsvermögen übersteigen, verlangen die höchste Strafe. Die Öffentlichkeit wäre gewiss empört, wenn es anders käme.«
Am 2. Dezember fand das Berufungsgericht in Paris keine rechtlichen Fehler in dem Prozess und bestätigte das Urteil. Die Akte kam daraufhin auf den Schreibtisch von Präsident Félix Faure, der das Gnadenrecht innehatte. Charbonnier bombardierte Faure mit Berichten und Briefen von Nervenärzten, die das Urteil für falsch hielten. »Vacher ist geisteskrank. Das ist die Überzeugung von Dr. Toulouse und den meisten seiner Kollegen«, erklärte er in einer seiner Eingaben. »Es ist die Auffassung aller Männer, die darüber nachdenken.«
Zwei Tage später schrieb er erneut an Faure, weil er fürchtete, sein Mandant habe seinen Lebenswillen verloren. Vacher, »der meine Kanzlei früher mit Briefen überschwemmte, hat vollständig aufgehört, mir zu schreiben«. Vachers letzte Mitteilung sei ein schlichtes, kurzes Telegramm gewesen: »Ich bin unschuldig. Es steht Ihnen frei zu tun, was Sie tun müssen.« Charbonnier fuhr fort: »Ist das nicht seltsam für einen Mann, der vom Selbsterhaltungstrieb geleitet sein sollte?«
Mittlerweile arbeitete Dr. Madeuf weiter an seinem Ziel, seine Meinung wissenschaftlich zu beweisen. Er kontaktierte Vachers Bruder und Schwester und bat um die Erlaubnis, das Gehirn ihres Bruders obduzieren zu dürfen, falls er hingerichtet werden sollte. Da sie die Ehre ihrer Familie wiederherstellen wollten, stimmten sie zu. Außerdem untersagten sie den drei Ärzten, die als Gutachter aufgetreten waren, die Leiche ihres Bruders anzufassen oder bei der Autopsie anwesend zu sein. Wenn Madeuf Vachers Geisteskrankheit nicht zu dessen Lebzeiten nachweisen konnte, dann wollte er seine Bemühungen wenigstens nach dem Tod des Mannes fortsetzen.
Mitte Dezember prüften drei Beamte im Justizministerium, die den Präsidenten bei Gnadenerlassen berieten, den Fall Vacher noch einmal. In den ruhigen Amtsstuben von Paris, Hunderte von Kilometern vom kreischenden Mob und von den traumatisierten Dorfbewohnern entfernt, studierten sie Charbonniers Schriften leidenschaftslos und fanden sie zum Teil durchaus überzeugend. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Zahl und die Art der Verbrechen »Zweifel daran wecken, dass [Vacher] im
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