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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Jahrhunderts war. Angespornt vor allem von Paul Brocas Entdeckung des Sprachzentrums und vom berühmten Fall von Phineas Gage, 18 entdeckten die Gelehrten, dass bestimmte Teile des Gehirns unterschiedliche Funktionen steuerten. Kriminologen fragten sich in der Folge, ob einige Teile des Gehirns Gewalttätigkeit fördern oder hemmen konnten. Bald war es in vielen Ländern selbstverständlich, das Gehirn hingerichteter Verbrecher zu untersuchen. In den USA sezierten Chirurgen beispielsweise das Gehirn von Charles Guiteau, der Präsident Garfield ermordet hatte, und von Leon Czolgosz, dem Mörder von Präsident McKinley. Beide Männer waren gehängt worden. Guiteaus Gehirn war stark geschädigt, während das Gehirn von Czolgosz »keine Anzeichen von Krankheiten oder Verformungen« aufwies. In Wien sezierte der Neurologe Moritz Benedikt Dutzende Gehirne von Verbrechern und gesetzestreuen Bürgern, um den anatomischen Sitz des Gehirns zu finden. In Frankreich obduzierten Ärzte jedes Verbrechergehirn, das sie in die Hände bekamen, sofern der Verbrecher oder seine Familie es ihnen erlaubt hatten. Lacassagne ärgerte sich über diese gesetzliche Einschränkung. Seiner Meinung nach sollten verurteilte Mörder kein Mitspracherecht haben, da das Sezieren von Gehirnen nützlich sei für die Wissenschaft und Verbrecher vor weiteren Taten abschrecken könne.
    Die begehrtesten Gehirne waren jene von Intellektuellen, die allerdings sehr selten und schwer zu bekommen waren. Im Jahr 1876 versuchte ein Kollege von Broca, ein Mitglied der anthropologischen Gesellschaft von Paris, die Situation zu verbessern, indem er eine Gruppe namens Mutual Autopsy Society gründete, einen Kreis von Kollegen, die sich verpflichteten, ihr Gehirn nach ihrem Tod für eine Sektion zur Verfügung zu stellen. 19 Zu den Mitgliedern gehörten viele große Intellektuelle der Ära, zum Beispiel der Anthropologe Paul Topinard, Laborde und drei Mitglieder der Familie Bertillon: Alphonse, sein Vater und sein Bruder. Broca nahm an mehreren Sektionen der Gesellschaft teil und vererbte, als er starb, sein eigenes Gehirn der Gruppe. Eines der prominentesten Mitglieder war Léon Gambetta, ein Politiker, der als glänzender Redner bekannt war. Nachdem er die Sektion von Gambettas Gehirn mitverfolgt hatte, erklärte Laborde, Gambettas Sprachzentrum sei »das am stärksten entwickelte und vollständigste, das je untersucht wurde«.
    Es war also keine Überraschung, dass so viele interessierte Parteien ein Stück von Vachers Gehirn haben wollten: Immerhin enthielt das Gewebe vielleicht das Geheimnis eines der berüchtigtsten Mörder des Jahrhunderts. Madeuf und andere Gegner der Todesstrafe hatten aber auch ein weiteres Motiv. Sie hofften, Verletzungen oder Deformationen zu finden und damit Lacassagnes Gutachten zu widerlegen und nachzuweisen, dass ein Mann mit einem Gehirnschaden zu Unrecht hingerichtet worden war, genau wie Menesclou. Wenn man allerdings bedenkt, wie unsanft Vachers Gehirn nach seinem Tod behandelt worden war, ist erstaunlich, dass diese Gelehrten überhaupt etwas zu finden hofften. Dr. Boyer vom Labor Lacassagnes, der an der ersten Obduktion teilgenommen hatte, spottete, die neuen Sektionen könnten allenfalls beweisen, wie unsinnig mikroskopische Untersuchungen seien.
    Trotz Boyers Bedenken wartete die Presse gespannt auf die Berichte. Am 3. Januar brachte Le Petit Journal dann die aufregende Nachricht, dass Toulouse in dem Gehirn einige »Verwachsungen« entdeckt habe. Mehrere Tage später veröffentlichte die Zeitung dann jedoch einen Bericht, der das Gegenteil behauptete: Manouvrier habe weder Verletzungen noch Mulden gefunden und halte Vacher für »voll zurechnungsfähig«. Laborde versprach daraufhin, dass seine Gruppe in den nächsten Wochen einige klare Antworten liefern werde.
    Anfang 1899 veröffentlichte Lacassagne ein Buch mit dem Titel Vacher l ´ éventreur et les crimes sadiques (Vacher der Ripper und sadistische Verbrechen), das von Vachers Mordserie und seiner Festnahme berichtete und noch einmal die Indizien zusammenfasste, die Lacassagne davon überzeugt hatten, dass Vacher eine Geisteskrankheit nur vorgetäuscht hatte. Das Buch enthielt auch Lacassagnes Federzeichnungen der Tatorte. Schon diese einfachen Skizzen waren schockierend und beeindruckten die Leser durch ihren Realismus. Lacassagne nahm auch Abhandlungen anderer Autoren über Landstreicherei und Sadismus auf, außerdem einen Augenzeugenbericht über Vachers

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