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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Hinrichtung.
    Das Buch wurde in wissenschaftlichen und juristischen Kreisen aufs Höchste gelobt, doch einige Kollegen drückten neben ihrer Bewunderung auch Zweifel aus. »Ihre Arbeit über Vacher ist sehr tiefgründig und scheint auf den ersten Blick recht vernünftig zu sein«, schrieb der Jurist, Soziologe und Philosoph Gabriel Tarde, ein Freund Lacassagnes. »Aber ich bin unschlüssig, was dieses Problem der Geisteskrankheit anbelangt.« Dr. Paul-Louis Ladame, ein Neurologe an der Universität Genf, schrieb Lacasagne einen Brief, in dem er die Studie »klassisch« nannte. Ladame war gegen die Todesstrafe, doch angesichts der Beweise räumte er ein, dass »es Ihnen nicht möglich war, etwas anderes bekannt zu geben als das, was Sie gefunden haben«. Dennoch hinterfragte er auch die Beziehung von Geisteskrankheiten und freiem Willen. Wenn ein Mensch tatsächlich ein geborener Mörder war, konnte er dann im rechtlichen Sinne schuldfähig sein? »Sind Tiger schuldfähig?«, fragte er.
    Am 15. Juni 1899 veröffentlichten Laborde und seine Mitarbeiter schließlich den ersten ihrer drei Berichte. Danach waren keine signifikanten Anomalien gefunden worden. Manouvrier gab an, dass Vachers Gehirn »etwas größer als der Durchschnitt« sei, was seiner Meinung nach allerdings keine besondere Bedeutung habe. Er wies zudem auf die Komplexität der Falten hin, die den Eindruck einer »ziemlich großen Ordnung« vermittelten. Insgesamt seien die Befunde »negativ«, was pathologische Veränderungen betraf.
    Laborde fand ebenfalls »keine Abweichungen, die typisch für Krankheiten sind«. Im Gegenteil, er hielt bestimmte Gehirnareale für hoch entwickelt. Das Sprachzentrum (das Broca-Areal unter der linken Schläfe, etwa fünf Zentimeter hinter dem Auge) schien sogar größer und verschlungener als normal zu sein. Anscheinend verwechselte er Vachers unzusammenhängendes Geschwafel mit Redegewandtheit und brachte daher das Sprachzentrum des Mörders mit einer erhöhten verbalen Kompetenz in Verbindung. Außerdem stellte Laborde ein hoch entwickeltes motorisches Zentrum im Gehirn fest, das Vacher seiner Meinung nach befähigte, lange Strecken zu gehen. 20
    Lombroso, der seine Gewebeproben unter dem Mikroskop gründlich untersucht hatte, kam nicht unerwartet zu dem Schluss, dass Vacher ein geborener Verbrecher sei. Er habe eine Atrophie bestimmter Schichten im Stirnlappen festgestellt (in dem Teil des Gehirns hinter der Stirn, der evolutionär am höchsten entwickelt ist). Die Zahl der winzigen Pyramidenzellen, von denen man glaubte, sie seien an der Erregung beteiligt, sei erhöht. Diese Befunde, versicherte er, seien typisch für »Epileptiker und geborene Verbrecher«. Die Franzosen schüttelten nur den Kopf. »Was für ein Unsinn«, schrieb Manouvrier, nachdem er Lombrosos Artikel in der Revue scientifique gelesen hatte. Die Abhandlung hätte vielleicht alle »verblüfft, wenn uns der Wert seiner Beteuerungen nicht bereits bekannt wäre«. Ein französischer Journalist schrieb: »Aber jeder weiß, dass Lombroso überall geborene Verbrecher sieht.«
    Ende Juli waren die Wissenschaftler einer Einigung noch kaum näher gekommen. Toulouse und sein Team veröffentlichten ihren vollständigen Bericht, der die Verwirrung jedoch lediglich vergrößerte. Trotz der »Verwachsungen«, die sie früher erwähnt hatten, fanden sie das Gehirn nun ziemlich normal, auch wenn es einige unerwartete Anomalien aufwies. Eine davon war zum Beispiel eine Verdickung der Membranen zwischen Gehirn und Schädel, wie man sie oft im Gehirn von Syphilitikern fand. Eine andere war die hohe Zahl von Amyloidkörpern, winziger Stärkekorpuskel, die im Gehirn von älteren Menschen häufig, in Vachers Altersgruppe jedoch fast nie zu finden waren. Der Mörder schien das Gehirn eines alten Mannes zu haben. 21 Ein Autor meinte scherzhaft, es sei vielleicht das Gehirn eines schmutzigen alten Mannes. »Aber man kann ein schmutziger alter Mann sein, sogar mit einer jungen Haut, ohne das Bedürfnis zu verspüren, junge Menschen dutzendweise auszuweiden.«
    Die Diskussion ging weiter, die Argumente wurden komplizierter, der Streit hitziger und die Öffentlichkeit ungeduldiger, vor allem weil man keine Verletzungen oder Anomalien in Vachers Gehirn gefunden hatte. Dies hatte Toulouse von Anfang an bezweifelt. Er hatte jahrelang mit Patienten in Nervenheilanstalten gearbeitet, von denen viele im Haus gestorben waren. Keiner von ihnen hatte Anomalien aufgewiesen. Warum

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