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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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sollte es da bei Vacher anders sein?
    Laborde hingegen war von seiner ursprünglichen Annahme abgerückt und wollte den Fall weiterhin als Waffe in seinem Kampf gegen die Todesstrafe nutzen. Er versicherte daher, dass das Fehlen von Anomalien kein Beweis für das Fehlen einer Geisteskrankheit sei, sondern lediglich beweise, dass Vachers Wahnsinn unsichtbare funktionale Ursachen habe. Die Gehirnstruktur spiele keine Rolle, die Lebensgeschichte und die Symptome des Mörders bewiesen bereits seine Geisteskrankheit. Die Tatsache, dass Vacher seine Verbrechen geplant hatte, »ändert nichts an deren grundsätzlich wahnhaftem Charakter«, schrieb er. Der Mann sei geisteskrank gewesen, und anstatt ihn auf die Guillotine zu schicken, hätte man ihn ohne Aussicht auf Freilassung bis an sein Lebensende einsperren müssen. Da es in Frankreich aber keine geeignete Einrichtung gebe, könne die Regierung für Leute wie Vacher eine Kolonie gründen, vielleicht in »einer kleinen Ecke der Teufelsinsel«. Dann holte Laborde zu einem Schlag gegen Lacassagne aus und erklärte, der Professor und seine Kollegen wären sicher zu dem gleichen Schluss gelangt wie er, wenn die »öffentliche Meinung« und »die Zahl und die entsetzliche Art« der Verbrechen sie nicht so sehr beeinflusst hätten.
    Am 20. März 1900 stellte Laborde der medizinischen Akademie in Paris eine aktualisierte Fassung seines Berichts vor. Erneut äußerte er Zweifel an Lacas­sagnes Objektivität in diesem äußerst problematischen Fall. Und erneut wies er auf Vachers gut entwickeltes Sprachzentrum hin. Dann trieb er, möglicherweise von seiner eigenen hochtrabenden Rhetorik beflügelt, seine Argumentation jedoch zu weit: Er verglich Vachers Sprachzentrum mit dem von Léon Gambetta, der ein Jugendfreund Lacassagnes gewesen war. Unter anderen Umständen, erklärte Laborde, hätte Vacher vielleicht ein Staatsmann oder Redner werden können.
    Das sorgte natürlich für Aufruhr in der Konferenz. Wollte Laborde wirklich behaupten, dass ein sexuell perverser Mörder etwas mit einem Gründungsmitglied der modernen französischen Republik gemeinsam haben könne? Die anderen Mitglieder empfanden schon den bloßen Gedanke daran als Beleidigung und sahen die Glaubwürdigkeit ihres Standes gefährdet. Laborde hatte Vacher nie gesehen und ihn auch nie schreien hören, er sei ein Anarchist Gottes. Wie konnte er dann einen so ungeheuerlichen Vergleich ziehen? »Seine Argumentation ist schwach und geschwätzig; sie zeigt, dass er gar nichts weiß«, erklärte Dr. Auguste Motet unter lautem Beifall. Manouvrier, der sowohl das Gehirn Vachers als auch das Gehirn Gambettas gesehen hatte, war schon früher zu dem Schluss gelangt, dass beide nichts gemein hatten. »Ich sagte, man könne die Frage der Geisteskrankheit endlos diskutieren, ohne eine wissenschaftliche Antwort zu finden«, schrieb er Lacassagne. Was Vachers Schuldfähigkeit anbelange, sehe er »keinen Grund, der kompetenten Meinung jener Experten zu widersprechen, die den Fall mit eigenen Augen verfolgen konnten«.
    Einige, die diesen Fall verfolgten, bereiteten sich nun auf eine regelrechte Schlacht vor. »Mir scheint, Laborde hat sich da in etwas verrannt«, schrieb Dr. Paul Dubuisson am Tag nach der Präsentation des Berichts an Lacassagne. »Wann kommen Sie nach Paris, um sich gegen Laborde zu verteidigen? Lassen Sie es mich wissen, damit ich Ihnen in Ihrem Kampf beistehen kann.«
    Auch Motet schrieb Lacassagne und schilderte seinen Streit mit Laborde und den Applaus, den er erhalten habe, als er den Professor verteidigt hatte. »Ich protestierte energisch [und erklärte, Ihre] Untersuchungen seien mit aller wissenschaftlichen Umsicht und aller Gewissenhaftigkeit vorgenommen worden, die Sie jedem Fall zuteilwerden lassen, mit dem Sie sich befassen … Mein lieber Freund, genügt das, um Ihnen angesichts dieser grotesken Vorfälle rund um die Untersuchung des Vacher-Gehirns Genugtuung widerfahren zu lassen?«
    Alphonse Bertillon teilte Lacassagne mit, dass »Affären dieser Art« nur dazu dienten, Autopsien des Gehirns »ein für alle Mal lächerlich« zu machen, außerdem leide das Ansehen ihres Berufsstandes darunter. »Ich glaube, dass Laborde eine vorzügliche Gelegenheit verpasst hat, den Mund zu halten.«
    Es ist nicht bekannt, wie Lacassagne darauf reagierte. Vielleicht war er ja der Meinung, mit seinem Gutachten und seinem Buch alles geschrieben zu haben, was zu der Angelegenheit gesagt werden musste. Oder er

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