Der Wandermoerder
Vacher! Ein Herumtreiber! Ha, ha! Es war Charlot, Charlot, Charlot! Bringt mir diesen Banditen, diesen Kinderschlächter!«
»Aber ich versichere Ihnen, Mutter Marcel, es war Vacher«, insistierte der Nachbar. »Er hat gestanden und alles beschrieben.«
»Hat Charlot Sie etwa dafür bezahlt, dass Sie das sagen? Halten Sie den Mund! Raus mit Ihnen! Charlot war der Mörder. Lassen Sie mich in Ruhe!«
Charles Roux schrieb seinerseits an Fourquet, dass er seit Vachers Geständnis zwar »freier atmen« könne, viele seiner Nachbarn aber immer noch misstrauisch seien. »Ich werde nie vergessen, was sie mir angetan haben.«
Etwas besser als früher ging es Bernardin Bannier, dem dickköpfigen, unwirschen Bauern, den man zu Unrecht des Mordes an dem Hirten Pierre Massot-Pellet in den Bergen der Ardèche beschuldigt hatte und der von seinen Nachbarn bedroht und mit Steinen beworfen worden war. Kurz nach Vachers Geständnis besuchte Albert Sarraut von der Dépêche de Toulouse die Stadt. Der Bürgermeister berichtete ihm, dass die Lage sich nach dem Geständnis des wahren Mörders beruhigt habe, aber »der Hass ist trotzdem geblieben … [Banniers] Feinde lassen ihn nicht in Frieden. Selbst wenn man Vacher zu uns gebracht und er das Verbrechen nachgestellt hätte, würden sie immer noch verlangen, dass Bannier verschwindet.«
Fourquet hätte Vacher am liebsten in all die Dörfer gebracht, in deren Nähe er gemordet hatte. Aber er musste sich damit begnügen, mit den fälschlich Beschuldigten und örtlichen Beamten brieflichen Kontakt aufzunehmen und ihnen zu versichern, dass man den wahren Mörder gefunden habe.
Besse besuchte das Dorf Étaules bei Dijon, wo Augustine Mortureux im Bois du Chêne umgebracht worden war. Die Einwohner der Stadt und skrupellose Lokalreporter hatten Eugène Grenier zum Sündenbock gemacht und schließlich zum Umzug in ein anderes Dorf gezwungen. Besse fand Greniers Landhaus verlassen und geplündert vor. Er spürte dann Augustines Eltern und ihre Schwestern auf und versuchte geduldig, sie davon zu überzeugen, dass Vacher der Mörder gewesen war. »Man weiß, was man weiß«, meinte eine verheiratete Schwester nur. Und die Mutter hielt einen langen Monolog über ihren schrecklichen Verlust und schwor, dass sie ihren eigenen Kopf dafür opfern würde, dass Grenier endlich unter das Fallbeil käme. Als Besse ging, schrie sie ihm noch nach: »Versuchen Sie nicht, uns in die Irre zu führen! Vacher hatte nichts damit zu tun, es war Grenier!«
Grenier, der in das etwa 40 Kilometer entfernte Dorf seiner Frau gezogen war, berichtete Besse, er habe immerhin ein klein wenig Wiedergutmachung erfahren, als die Redakteure des Bourguignon Salé ihre Behauptungen öffentlich zurückgenommen und sich überschwänglich entschuldigt hätten. Das Konkurrenzblatt, Le Bien Public , habe dies jedoch zunächst verweigert. Erst als er in ihr Büro gegangen sei und den Leuten die Zeitungen aus Lyon mit Vachers Geständnis gezeigt habe, hätten sie auf Seite drei einen winzigen, kaum auffallenden Artikel über Vacher abgedruckt. »Wenn ich meine Geschichte erzähle, sind die Leute so erstaunt, dass sie meinen, ich hätte sie erfunden«, sagte Grenier. »Aber nein – sie ist wahr! Meine Falten und mein weißes Haar bezeugen es.«
Als Madeuf in Paris ankam, gab er die linke Hälfte von Vachers Gehirn Dr. Édouard Toulouse in der Nervenheilanstalt Villejuif. 17 Toulouse war als Gegner der Todesstrafe bekannt und hatte Charbonniers Berufung unterstützt. Er beschloss, das Gehirn im Interesse der Wahrheitsfindung in mehrere Teile zu zerschneiden und diese Ärzten mit besonderen Fachkenntnissen zu übergeben. Ein Stück bekam Dr. Jean-Baptiste Vincent Laborde, der Leiter der Abteilung Physiologie der medizinischen Fakultät in Paris. Dieser teilte seine Probe mit Dr. Léonce Manouvrier, einem Professor der anthropologischen Fakultät in Paris. Weitere Gewebeproben verteilte Toulouse an mehrere andere Pariser Anatomen, die sie unter dem Mikroskop untersuchten. Ein Foto des Gehirns und etwas Gewebe schickte er auch an Lombroso, da dieser ihn nachdrücklich darum gebeten hatte. Insgesamt besaßen daher mindestens ein halbes Dutzend Wissenschaftler Teile des Gehirns. Jeder sollte seine Probe untersuchen, und der Befund sollte dann in einem gemeinsamen Schlussbericht veröffentlicht werden.
Diese Untersuchungen verdeutlichten, wie hoch das Interesse an der Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns Ende des 19.
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