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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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waagrechte Position. Vacher stöhnte auf wie ein Tier, das mit den Beinen in einer Falle steckt. »Dieser Feigling«, murrten einige Leute in der Menge, »er weiß nicht einmal, wie man anständig stirbt.« Nun senkten die Scharfrichter die lunette ab, den Holzbügel, der den Kopf des Gefangenen festhielt. Um genau 7.03 Uhr zog Deibler senior schließlich an einem Griff. Ein Sausen war zu hören, dann ein dumpfes Geräusch. Der Pöbel, der die ganze Zeit über lauthals geschrien und gekreischt hatte, brach in ein wildes, einmütiges »Bravo! Bravo!« aus. Dann zerstreute sich die Menge langsam mit aufgeregtem Geplapper über Deiblers Abschiedsvorstellung.
    Vachers Leiche und sein Kopf wurden in das örtliche Krankenhaus gebracht. Jetzt hatte Madeuf das Sagen. Er verweigerte den drei Ärzten, die das Gutachten erstellt hatten, zwar den Zutritt, erlaubte ihnen aber, Vertreter zu schicken. Lacassagne entsandte Dr. Jean Boyer, der Pierre Laurent obduziert und die Knochen untersucht hatte. Obwohl Lacassagne zur Untersuchung nicht zugelassen war, war er sich seiner vormaligen Schlussfolgerungen sicherer denn je – gerade aufgrund Vachers letzter Minuten. »Er starb nicht wie ein Geisteskranker mit dem Hochmut des Mystikers oder der Würde eines Menschen, der sich für einen Märtyrer hält«, schrieb er, einen Zeitungsartikel zitierend. Wie jeder normale Mensch sei Vacher von Angst überwältigt worden, als er sich der Guillotine genähert hatte. Seine Angst vor dem Tod sei der endgültige Beweis für seine Zurechnungsfähigkeit.
    In den nächsten dreieinhalb Stunden sezierten die Ärzte die Leiche sorgfältig. Das Herz und die Lungen waren groß und stark, der Magen war leer, der Verdauungstrakt sauber. Die Geschlechtsorgane wiesen Symptome einer Geschlechtskrankheit auf: Der rechte Hoden war fast ganz verkümmert, der linke zeigte Spuren einer frühen Operation. Das erklärte, warum Boyer auf der Hose von Pierre Laurent zwar Spermaflecken, aber unter dem Mikroskop keine Spermien entdeckt hatte. Der Mörder der jungen Hirten war offenbar zeugungsunfähig gewesen. 16
    Dann wandten sich die Ärzte dem Gehirn zu. Ein Fotograf machte Bilder, ein Experte Gipsabdrücke. Die Ärzte stellten fest, dass das Gehirn »normale« 1500 Gramm wog und zumindest für das bloße Auge keine abnormen Verwachsungen oder Verletzungen aufwies. In einem Kommentar zu dem Befund folgerte die Zeitung Petit Journal daraus, dass die Debatte über Vachers Geisteszustand damit nunmehr endgültig abgeschlossen sei. »Die Geschworenen in Ain können nun ruhig schlafen, ohne Angst haben zu müssen, keinen Verbrecher, sondern einen Geisteskranken verurteilt zu haben.«
    Aber die Debatte war nicht vorbei. Am selben Abend stieg Madeuf in den Zug nach Paris. Bei sich trug er einen verschlossenen Kochtopf mit offiziellen Siegeln und Stempeln. Darin befand sich der Kopf von Joseph Vacher.

Teil drei Nachspiel
    »Die Geschichte dieses Verbrechers und diese Serie von ruchlosen Verbrechen werden immer zu den erstaunlichsten Exempeln menschlicher Perversion zählen.«
    Dr. Alexandre Lacassagne, 1899
Zweiundzwanzig Das Gehirn eines Mörders – ein Rätsel
    Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Vachers stellten immer noch nicht das Ende des Falles dar. Nach seinem Geständnis waren Reporter in die Dörfer gereist, wo er gemordet hatte, um die Menschen zu befragen. Von besonderem Interesse waren für die Journalisten diejenigen Orte, an denen unschuldige Bürger als Mörder beschuldigt worden waren. Würden ihre Nachbarn sich bei ihnen dafür entschuldigen?
    Jules Besse besuchte die Gegend in Südfrankreich, wo die dreizehnjährige Louise Marcel in einen Schafstall gezerrt und umgebracht worden war. Charles Roux, der Mann, der die Leiche gefunden hatte, war damals fälschlicherweise verdächtigt und eingesperrt worden. Danach hatte die Gemeinde ihn geächtet. Das Trauma hatte die Gesundheit von Louises ’ Mutter zerstört. Besse berichtete, dass ein Nachbar versucht habe, ihr auf dem Sterbebett von der Hinrichtung zu erzählen, doch sie habe ihn weinend unterbrochen: »Wollen Sie mir sagen, dass sie diesem Verbrecher Charlot [Charles Roux] den Kopf abschlagen werden?«
    Als der Nachbar ihr erklären wollte, dass Roux den Mord nicht begangen habe, sondern ein Mann namens Joseph Vacher ihn gestanden habe, fragte sie: »Wer ist dieser Vacher?«
    »Ein Herumtreiber.«
    Darauf richtete sich die arme Frau in ihrem Bett auf und lachte wie eine Verrückte. »Ha, ha!

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