Der Wandermoerder
besser sehen zu können, sodass die Reporter sie mit Früchten verglichen. Hier und dort ragten Leitern aus der Menge, und manche hatten Pyramiden aus Parkbänken geformt. Wie immer bei solchen Ereignissen hatten sich seltsamerweise gerade die Frauen nach vorne geschoben. Und wie immer war die Menge hässlich, ekelerregend, barbarisch. »Der Mob, der sich um die Guillotine herumdrängt, ist ein trauriger und deprimierender Anblick«, schrieb Alexander Bérard, ein Beamter im Departement Ain, der den Hinrichtungen als offizieller Beobachter beiwohnen musste. Er hasste diese Zuschauer, die in ihm und seinen Kollegen nur »Abscheu« weckten.
Eine Hinrichtung ist ein Akt höchster Gerechtigkeit und sollte einen religiösen Charakter haben. Doch für den Mob ist sie nur ein erregendes Spektakel, eine Gelegenheit, seinen widerwärtigen Appetit auf Blut zu stillen. Prostituierte, Zuhälter, Trickbetrüger … umringen die Guillotine … Leute, die keine Moral haben und von einer unziemlichen Neugier getrieben werden. Für sie ist dies die Gelegenheit zu einem ausgelassenen Fest … einer Orgie mit den schrecklichsten und niedrigsten Instinkten der tobenden Bestie.
Um Viertel nach sechs betraten Louis Ducher und drei andere Beamte die Zelle, in der Vacher schlief. Ducher berührte ihn an der Schulter. »Ihre Berufung und Ihr Gnadengesuch wurden abgelehnt«, sagte er. »Stehen Sie auf, sofort!«
Vacher wachte auf und meinte: »Gut, ich bin bereit. Macht mit mir, was ihr wollt.« Dann stand er auf, zog sich an und wusch sich. »Warum haben sie mich nur aus der Heilanstalt entlassen, ehe ich ganz geheilt war?«, jammerte er. Dann kam der Gefängniskaplan mit einem Kruzifix. »Vacher, Sie haben immer eine gewisse Religiosität gezeigt. Wollen Sie sich mit Gott versöhnen und den Beistand der Kirche annehmen?« Vacher dachte kurz nach und lehnte dann ab. »Ich bin unschuldig und brauche Christus nicht. Vor dem Tod habe ich keine Angst. Bald bin ich bei Gott, er wird für mich die Messe lesen.«
Er verweigerte auch das traditionelle Glas Rum. Dann ging er in den Raum, wo Anatole Deibler, der Sohn des obersten Scharfrichters, auf ihn wartete, um ihm wie üblich den Hemdkragen abzuschneiden und das Haar im Nacken zu stutzen. »Ich hätte mir gestern noch die Haare schneiden lassen sollen«, scherzte Vacher.
Als man ihn schließlich durch die Gefängnistür führte, rief er einigen dort wartenden Leuten zu: »Hier kommt das Opfer der Fehler, welche die Heilanstalten begangen haben!«
Deiblers Sohn und ein weiterer Helfer brachten Vacher in die wartende Kutsche, die sich nun in Bewgung setzte und über das Kopfsteinpflaster der Straßen rumpelte. Vacher lag gefesselt im Wagen, Deibler führte das Pferd, der Priester ging nebenher und murmelte Gebete, und zwei Dutzend berittene Polizisten bewachten die Gruppe. Als Vacher fragte, ob er zu der Menge sprechen dürfe, wenn sie das Feld erreicht hätten, stimmte Deibler entgegen den Vorschriften zu. Der Priester bot Vacher das Kruzifix an, doch der weigerte sich, es zu küssen. »Das ist sinnlos«, sagte er. Als der Priester erneut versuchte, ihn zum Beten anzuhalten, befahl ihm Vacher zu schweigen, damit er sich auf seine Rede vorbereiten könne.
Bald rollte die Kutsche auf das große Feld zu. »Da ist er!«, schrie jemand, woraufhin sich ein Lärmen in der Menge breitmachte. »Tod! Tod Vacher! Tod dem Verbrecher!« Als Vacher die Guillotine näher kommen sah, schien ihn jegliche Energie zu verlassen. Er wandte sich dem jungen Deibler zu und meinte: »Ich weigere mich zu gehen. Ich werde keinen Widerstand leisten, aber Sie müssen mich tragen.« In diesem Fall dürfe er nicht zu den Leuten sprechen, erklärte Deibler. »Von mir aus«, erwiderte der Gefangene. »Pech für die Gesellschaft.«
Das waren die letzten Worte von Joseph Vacher.
Die Soldaten, die um die Guillotine herumstanden und Deibler und seinen Gehilfen zusahen, ließen die Kutsche durch und drehten sich dann mit dem Gesicht zum Mob. Vacher war jetzt vollkommen erschlafft und schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Selbst als der Priester ihm das Kruzifix an die Lippen drückte, wich er nicht zurück, küsste das Kreuz aber auch nicht. Die Gehilfen hoben Vacher aus der Kutsche und trugen ihn auf das Schafott, dabei ragten seine Füße in die Luft, und sein Kopf schleifte fast auf dem Boden. Dann legten sie ihn auf die bascule , die mit Scharnieren versehene Bank unten an der Guillotine, und kippten sie in eine
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