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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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spürte, dass die Öffentlichkeit des Falles allmählich müde wurde. Das Monster war tot, die Bürger waren wieder sicher, und das Leben ging weiter. Und wenn die Presse jener Zeit die öffentliche Meinung widerspiegelte, betrachteten die Leute diese endlosen Diskussionen als typische Haarspaltereien der intellektuellen Elite. Die Zeitung L ’ Écho de Paris trug dem Rechnung und druckte eine satirische Kolumne ab, die sowohl die Nervenärzte als auch die Juristen verspottete. Es war nicht weiter erstaunlich, dass der Hohn gleichermaßen alle Experten traf.
    Untersuchungsrichter: »Nun gut, mein Bester, haben Sie das Gehirn von Vacher untersucht?«
    Arzt: »Ich kenne es wie meine Westentasche.«
    Richter: »Und wie lautet dann das Ergebnis?«
    Arzt: »Ich werde es in einigen Tagen bekannt geben.«
    Richter: »Dann sagen Sie mir zwischenzeitlich nur das Wichtigste.«
    Arzt: »Das werden Sie in meinem Bericht lesen, dann verstehen Sie es auch besser.«
    Richter: »Wird es mich arg mitnehmen, wenn ich erfahre, wen wir zum Tode verurteilt haben?«
    Arzt: »Sie haben jemanden zum Tode verurteilt, ohne ihn zu kennen?«
    Richter: »Ich möchte nur wissen, ob wir einen Halunken verurteilt haben oder einen Verrückten, einen Wahnsinnigen.«
    Arzt: »Das hätten Sie sich vielleicht früher fragen sollen.«
    Richter: »Als Erstes musste die Gesellschaft Vergeltung üben. Nachdem dies geschehen ist, rücken diese kleinen wissenschaftlichen Diskussionen in den Mittelpunkt des Interesses. Zudem können Sie uns für das nächste Mal helfen. Also, haben wir nun einen Verrückten guillotiniert, ja oder nein?«
    Arzt (ruhig): »Nein.«
    Richter: »Gut! Ich muss zugeben, das hat mir ein wenig zu schaffen gemacht.«
    Arzt (wütend): »Nein, Herr Untersuchungsrichter, Sie haben keinem Verrückten den Kopf abgeschlagen. Sie haben etwas Besseres getan – Sie haben einem Kind den Kopf abgeschlagen, einem richtigen Baby, einem Geschöpf, das für sein Tun weniger verantwortlich ist als ein zweijähriges Kind, einen Mann, der nicht einmal eine Fliege töten konnte. Das hat Vachers Gehirn eindeutig bewiesen, mein Herr.«
    Richter (verdutzt): »Trotzdem, er hat die Hirten umgebracht. Das ist unbestritten! «
    Arzt: »Ja, vielleicht hat er ein paar Hirten ausgeweidet. Sein Gehirn zeigt nicht, dass er das nicht getan hat. Aber es zeigt auch eindeutig, dass er außerstande gewesen wäre, einer Fliege auf dem Kopf eines dieser Hirten etwas anzutun.«
    Paul Brouardel, ein älterer Wissenschaftler, Politiker und vor Kurzem gewählter Präsident der französischen Gesellschaft für wissenschaftlichen Fortschritt, wusste, dass der anhaltende Streit schädlich war. Daher drängte er seine Kollegen, sich zu beruhigen. »Labordes Einmischung ist sehr ärgerlich«, gab er zu. Aber jede weitere Debatte »würde ein schlechtes Licht auf uns alle werfen«.
    Die Gelehrten hätten sich letztlich auch endlos streiten können. Denn was Vacher motiviert hatte, ließ sich weder durch eine Sektion seines Gehirns noch durch Gespräche mit ihm zu seinen Lebzeiten feststellen. Lacassagne hatte Monate damit verbracht, die Denkweise dieses Mannes zu ergründen. Und nachdem Gespräche ihn nicht weitergebracht hatten, hatte er sich mit den Spuren an den Tatorten beschäftigt. So hatte er ein Muster entdeckt, eine Fähigkeit, systematisch zu planen, die Taten waren das Werk eines Verbrechers, der sich trotz seiner »Rage« seines Handelns bewusst war und somit seine Schuldfähigkeit bewiesen hatte. Natürlich konnte man dagegen einwenden, dass Vacher zwar methodisch vorgegangen sei, aber dennoch unter einem inneren Zwang gehandelt habe, oder er sei nur zeitweise geisteskrank gewesen, worauf auch seine Einweisungen in Heilanstalten hindeuteten. Aber in Anbetracht der Nachlässigkeit der Nervenheilanstalten des Landes war Lacassagne überzeugt, dass er nicht zugunsten des Angeklagten urteilen durfte – es gab einfach keinen sicheren Ort, um ihn einzusperren. Der Wissenschaftler zog sich daher etwas zurück, und der der Beschützer trat in den Vordergrund. Die Folge war die Guillotine. Doch selbst Lacassagne schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob seine Analyse – selbst wenn sie juristisch korrekt sein mochte – moralisch gerechtfertigt war. »Wir sind davon überzeugt, dass wir die Wahrheit gesagt haben, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, schrieb er etwas defensiv. »Und wer mit unseren Bemühungen vertraut ist, stimmt hoffentlich mit uns darin

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