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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Molière-Schuhe unter einer Hecke hervorragen. Sie wusste, dass sich häufig Pärchen zu einem Stelldichein an diesem Platz trafen, fand es aber ungewöhnlich, dass sie nur zwei Schuhe sah. Also ging sie zur Hecke, um sich das Ganze genauer anzusehen.
    Eugénies Leiche, die knapp 200 Meter vom Fabriktor entfernt lag, sah aus, als habe ein wildes Tier sie angegriffen. Die Schreie der Frau lockten die Arbeiterinnen nach draußen. Sie erkannten das Opfer sofort. Unter den entsetzten Augen der Umstehenden nahm die Polizei den Tatort in Augenschein und brachte die Tote dann ins Krankenhaus nach Beaurepaire, wo ein Arzt namens Claude Brottet sie sezierte.
    Nach dem französischen Gesetz konnte jeder lokale Arzt eine Autopsie vornehmen, wenn die Behörden ihm dazu den Auftrag erteilten. Es gab nur wenige echte Leichenhallen im Land und nur ein paar moderne Anatomielabors. Auf dem Land waren die Verhältnisse besonders primitiv. Die Polizei trug Leichen meist zum nächsten Bauernhof oder in ein städtisches Gebäude. Dort versuchte ein Arzt dann, sie so zu sezieren, dass die Befunde vor Gericht anerkannt wurden. Dabei arbeitete er ohne Handschuhe auf einem Küchentisch oder auf dem Schreibtisch eines Beamten und atmete den stechenden Geruch einer verwesenden Leiche ein.
    »Ich kann mich an keine dieser Autopsien erinnern, ohne dabei Abscheu und Verzweiflung zu empfinden«, schrieb Dr. Henri Coutagne, ein Kollege und Freund von Lacassagne, der manchmal aufs Land gerufen wurde, um Leichen zu sezieren.
    Wenn die Temperatur nicht zu niedrig war, mussten wir die Leiche wohl oder übel in einem Hof oder in einer Scheune auf ein paar Bretter legen, die ihrerseits auf Fässern ruhten. Wir holten Wasser … Leintücher … und sezierten langsam, allen Temperaturschwankungen ausgesetzt, ohne Hilfe. Wir konnten von Glück reden, wenn uns ein Polizist assistierte. Aber wenn es kalt war, wurde alles noch komplizierter. Die Leiche wurde irgendwie (Tragbahren gab es auf dem Land nicht) in ein Gemeindegebäude geschafft, zum Beispiel ins Rathaus, ins Polizeirevier oder in die Schule … Einmal mussten wir auf dem Konferenztisch des Gemeinderates sezieren … Hinterher sah sich der Bürgermeister mit einer regelrechten Rebellion der Gemeinderäte konfrontiert.
    Manchmal hatte er keine andere Wahl, als die Autopsie im Haus des Opfers selbst vorzunehmen, oft sogar auf dem »eigenen Esstisch des Opfers«.
    Für diese armselige, gefährliche Arbeit bekamen die Ärzte 25 Francs, wenn es eine gewöhnliche Autopsie war, 35 Francs, wenn eine Exhumierung notwendig war, und 15 bis 25 Francs für ein neugeborenes Kind, je nachdem, ob es exhumiert werden musste oder nicht. (Diese neuen Gebühren wurden 1893 festgesetzt, nachdem Lacassagne und seine Kollegen sich dafür eingesetzt hatten. Vorher hatten die Ärzte nur etwa ein Zehntel dieser Beträge erhalten.) Die ganze Prozedur musste schrittweise durchgeführt werden. Wenn der Arzt am Tatort eintraf, trug er zunächst seinen Namen, die Namen der anwesenden Beamten und seine Kenntnisse über den Fall auf einem Formular ein. Er beschrieb die unmittelbare Umgebung: Gab es Blutspuren? Zerrissene Kleider? Zertrampelte Büsche oder andere Zeichen eines Kampfes? Dann hielt er die Position und den Zustand der Leiche fest. Anschließend studierte er jeden Quadratzentimeter der Leiche – die er immer noch nicht berührt hatte –, notierte alle identifizierenden Merkmale und beschrieb und vermaß jede Wunde. Dann drehte er die Leiche um und setzte die genaue Untersuchung fort. Er musste aufschreiben, welche Insektenlarven die Leiche besiedelten und wie weit sie entwickelt waren – das konnte ein Indiz für den Todeszeitpunkt sein. Erst dann wurde die Leiche zur Autopsie an einen geschützten Platz gebracht.
    Dort legte man sie auf einen Tisch oder auf den Boden, und der Arzt öffnete und untersuchte den Kopf, den Hals, den Brustkorb, den Bauch und den Magen. Da Lacassagne den unterschiedlichen Ausbildungsstand seiner Kollegen kannte, setzte er keine Kenntnisse voraus, als er eine Anleitung für Autopsien veröffentlichte. Zum Schluss musste der Arzt alle Tatsachen und seine Schlussfolgerungen in einem schriftlichen Protokoll festhalten.
    Im Großen und Ganzen befolgte Brottet die Anleitung. Er vermerkte den Fundort der Leiche und die Spuren, die zeigten, dass jemand sie vom wenige Schritte entfernten Tatort weggezerrt hatte. Dort entdeckte er zertrampeltes, blutiges Gebüsch und aufgewühlten Boden.

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