Der Wandermoerder
Sorgfältig beschrieb er die äußeren Wunden und Hautabschürfungen. Während der Autopsie notierte er Schäden an inneren Organen.
Nach der Untersuchung zog Brottet den Schluss, dass Eugénie gegen sieben oder acht Uhr abends in der Gasse überfallen worden war, also etwa eine Stunde nach ihrer letzten Mahlzeit (er hatte teilweise verdaute Brot-, Buchstabennudel- und Käsereste in ihrem Magen gefunden). Der Täter hatte sie am Hals gepackt, zu Boden geworfen und mit zwei Händen gewürgt, wie die Fingerabdrücke an beiden Seiten der Kehle zeigten. Sie musste sich heftig gewehrt haben, denn das Gebüsch war zertrampelt, und an ihren Handflächen waren Schürfwunden. Der Angreifer hatte versucht, ihre Schreie abzuwürgen, indem er ihr die Hand auf den Mund gelegt hatte (die Schneidezähne hatten die Innenseite der Unterlippe zerfetzt). Sie hatte wahrscheinlich kaum noch atmen können, als er mehrere Male auf sie eingestochen hatte, um ihren Tod zu beschleunigen. Wunden an der rechten Seite ihres Halses belegten, dass der Mörder mit der rechten Hand zugestochen und sie mit der linken weiter gewürgt hatte. Eugénie musste nun bereits tot gewesen sein, aber der Täter befand sich in Rage. Er stach sie wiederholt in den Oberkörper, in die Brust und in den Schambereich. Dann schnitt er ihr die rechte Brustwarze ab und warf das blutige Gewebestück weg. Anzeichen für eine Vergewaltigung gab es nicht. Zum Schluss zerrte der Mörder sein Opfer vom Tatort weg und ließ es hinter der Hecke liegen.
Einige wichtige Ratschläge aus Lacassagnes Handbuch hatte Bottet allerdings nicht berücksichtigt. Er hatte nicht untersucht, ob ein analer Missbrauch vorlag – das hätte mehr über den Charakter des Täters enthüllt. Und weder er noch die Polizei hatten von den Fußspuren Gipsabdrücke gemacht, weil der Regen den Boden in einen Sumpf verwandelt hatte. Die Spuren begannen und endeten bei der Leiche.
Die Polizei wandte die Untersuchungsmethoden an, an die sie seit Jahrzehnten gewöhnt war. Dabei verließ sie sich auf Denunziationen und Gerüchte, selbst wenn physische Beweise für das Gegenteil vorlagen. Sie nahm Männer beim leisesten Verdacht fest und steckte sie so lange ins Gefängnis, bis einer von ihnen redete. Da die Polizisten von einem Verbrechen aus Leidenschaft ausgingen, verhafteten sie zunächst den letzten Liebhaber des Opfers, einen jungen Mann namens Eugène Dorier. Es gab zwar keinerlei Beweise für seine Schuld, und er verfügte über ein Alibi, dennoch hielt die Polizei ihn 29 Tage lang fest.
Dann verhaftete sie einen jungen Mann namens Louis François, der ihrer Meinung nach ein Motiv hatte. Eugénie hatte eine Zeit lang behauptet, dass ihr uneheliches Kind von Louis stamme, und als die Polizei einen Koffer durchsuchte, der Eugénies Sachen enthielt, fand sie einige Briefe von Louis, in denen er ihre Behauptung wütend bestritt. Einige Zeugen wollten ihn auch in der Nähe des Tatorts gesehen haben, waren sich aber uneinig, was den Zeitpunkt betraf. Seine Kleider wiesen jedoch keine Spuren von Schmutz oder Blut auf, und Freundinnen von Eugénie sagten aus, dass diese längst zugegeben habe, dass Louis nicht der Vater ihres Kindes war. Dennoch wurde er festgenommen und blieb vier Monate ohne Gerichtsverhandlung im Gefängnis.
In der Zwischenzeit hatte jemand am Tatort ein blutiges Messer und eine Mütze gefunden, aber die Polizei bemühte sich nicht darum, den Besitzer zu ermitteln.
Der letzte Verdächtige war Louis Lacour, ein Diener des Fabrikbesitzers. Er hatte einige Tage vor dem Verbrechen seine Uhr verloren, und man fand sie nicht weit vom Tatort in einem Bach. Es interessierte die Polizei nicht, dass Lacour ein Alibi hatte – die Verhaftung sollte beweisen, dass sie aktiv war. In einem unbeholfenen Versuch, Lacour zu überführen, besuchten Polizisten die Eltern von François und behaupteten gegenüber der Mutter, sie könne ihrem Sohn nur helfen, wenn sie jemand anderen beschuldige.
»Könnte es Lacour gewesen sein?«, fragte ein Beamter. »Ja oder nein? Beschuldigen Sie Lacour?«
Das wollte die Frau zunächst nicht. Daraufhin drohte die Polizei, ihren Sohn im Gefängnis sitzen zu lassen. Schließlich gab sie nach, und die Polizei verhaftete auch Lacour.
Jetzt saßen drei Verdächtige ohne Beweise im Gefängnis. Hätte die Polizei sich mehr Mühe gegeben, hätte sie Victorine Gay, eine fünfundfünfzigjährige Frau in einer benachbarten Stadt, befragen können, die von einem Fremden
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