Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
Vom Netzwerk:
immer er es brauchen sollte.
    Nachdem er gegangen war, bemerkte sie einige zerknüllte Blätter Papier im Kamin. Sie glättete sie und sah, dass es leidenschaftliche Briefe an Louise Barant waren, die Frau, die er angeschossen hatte. Er ist wirklich total verrückt, dachte sie. Sie verbrannte die Briefe und hoffte, ihn nie mehr wiederzusehen.
    Während Vacher nach Norden in Richtung Lyon fuhr, wich das Mittelmeerklima allmählich gemäßigteren Temperaturen. Palmen machten Eichen und Kiefern Platz, trockene, zerklüftete Landschaften wichen schattigen Tälern und Wegen, die undurchdringliche Hecken säumten. Zehn Kilometer vor Lyon stieg er in Saint-Genis-Laval aus, einem alten, von einer Mauer umgebenen Dorf in der Nähe der Rhone. Er hatte angenehme Erinnerungen an die Jahre, die er damit verbracht hatte, durch die gewölbten Gänge des Klosters zu wandern und über das Mysterium der Dreifaltigkeit nachzudenken. Die Mönche hatten ihn bestimmt nicht vergessen und würden ihn sicher aufnehmen.
    Aber die Mönche hatten an Vacher ganz andere Erinnerungen und schickten ihn fort.
    Daraufhin nahm er einen Zug nach Lyon, wo er ein paar Gelegenheitsjobs bekam. Da ihm das Leben in der Stadt nicht gefiel, schrieb er seiner Schwester und bat sie um Geld für eine Fahrkarte. Sie lehnte jedoch ab, woraufhin er Lyon zu Fuß in Richtung Beaufort verließ, seiner Heimatstadt. Er ging die Rhone entlang nach Süden und benutzte kleine Pfade und Droschkenwege, die zwischen dem Ufer und den mit Reben bedeckten Hängen verliefen. Der Mai war ein Monat der Hoffnung am Rhoneufer: Die Aprikosen- und Pfirsichknospen versprachen reife Früchte, die Lavendel- und Rosmarinbüsche dufteten, und das Krächzen der Elstern durchbrach die Stille. Als er die Kleinstadt Vienne erreichte, wandte er sich nach links und überquerte die eiserne Brücke. Jetzt führte sein Weg hinauf in die Berge, wo er sich ein paar Tage mit Betteln und Stehlen durchschlug, bis er in Beaurepaire war. Da Gott über ihn wachte, war er überzeugt davon, dass alles sich zum Guten wenden würde.
    Eugénie Delhomme war eine attraktive einundzwanzigjährige Frau, die in der Seidenfabrik von Monsieur Perrier am Stadtrand arbeitete. Es gab Hunderte Fabriken dieser Art in den verschiedenen Dörfern, und alle belieferten die blühende Textilindustrie in Lyon. In der Fabrik drehten sich Hunderte von mechanischen Seidenspulen und wickelten die Stränge auf. Mitten im Geratter beobachtete eine Armee von Frauen die Apparate und griff bei Bedarf ein, um verhedderte Fäden geschickt zu straffen. Es war eine anstrengende Arbeit, die um fünf Uhr morgens begann und bis halb neun Uhr abends dauerte, unterbrochen von einer Mittagspause. Eugénie bekam 24 Sous am Tag, kaum genug, um anderthalb Pfund Brot zu kaufen. Einen Teil ihres Lohnes schickte sie ihrem alten Vater in einer anderen Stadt.
    Es war ein hartes, aber anständiges Leben, das Eugénie und ihre Kolleginnen führten. Sie waren alle im Wohnheim der Firma untergebracht, aßen im Speisesaal und gingen abends in die Stadt, um im »Café Dorier« miteinander zu plaudern. Viele von ihnen hatten Liebesaffären mit den Männern im Dorf, und vor allem Eugénie war dafür bekannt, sogar mehrere zu haben. Die Leute erzählten, dass man im Vobeigehen an der Fabrik auf der anderen Seite der Hecke oft Küsse hören könne.
    Am Samstag, den 19. Mai 1894, verließ Eugénie ihren Arbeitsplatz etwa eine Stunde vor Feierabend und eilte zum Fabriktor. Sie hatte eben ein Essen verzehrt, das die Firma bereitgestellt hatte. Eugénie trug einen rot-weiß gestreiften Arbeitskittel und Molières – beliebte, oben offene Schuhe mit plumpen Absätzen, nach oben gebogener Spitze und modischen Schnürsenkeln. Sie waren nach dem Theaterschriftsteller benannt, dessen geckenhafte Figuren ähnliche Schuhe trugen. »Wohin gehen Sie?«, fragte die Aufseherin. »Es wird gleich regnen.«
    »Ach, ich gehe nur etwas auf der Straße spazieren. Ich bin gleich zurück.«
    Niemand wusste, ob Eugénie ein Rendezvous hatte oder ob sie nur etwas frische Luft brauchte. Jedenfalls kehrte sie bis zum Ende der Schicht nicht an ihren Arbeitsplatz zurück, und ihre Freundinnen sahen sie in dieser Nacht auch nicht im Wohnheim. Am nächsten Morgen bemerkte Monsieur Perrier, dass sie immer noch fehlte, was ihn überraschte, weil sie immer sehr zuverlässig gewesen war.
    An diesem Nachmittag hütete eine Dorfbewohnerin ihre Schafe in der Nähe der Fabrik. Auf einmal sah sie ein Paar

Weitere Kostenlose Bücher