Der Wandermoerder
belästigt worden war, als sie am Tag des Verbrechens ihre Schafe gehütet hatte. Sie hatte noch die Narbe an seiner Wange und sein herabhängendes rechtes Auge gesehen, ehe sie geflohen war. Am gleichen Tag hatte ein entstellter Vagabund einer Frau namens Eydan aus Beaurepaire aufgelauert, aber ihr Mann hatte sie gerettet, bevor der Landstreicher ihr etwas antun konnte. Eine dritte Frau, Mélanie Pallas, hatte denselben Mann in einer Entfernung von knapp 30 Metern auf sie zukriechen sehen. Doch sie war weitergegangen und hatte sich laut mit einem imaginären Begleiter unterhalten, sodass der Fremde annehmen musste, dass sie nicht allein war.
Alle drei Frauen beschrieben denselben Fremden, und der letzte Vorfall hatte sich nur wenige hundert Meter vom Schauplatz des Mordes entfernt abgespielt. Und obwohl die halbe Einwohnerschaft am gleichen Abend den mysteriösen Landstreicher suchte, stellte die Polizei nie eine Verbindung zwischen diesen Ereignissen und dem Mord her. Sie hatte ja ihre Verdächtigen. Erst als 3000 Einwohner eine Petition unterschrieben, setzte man François und die anderen jungen Männer auf freien Fuß. Da der Mörder jedoch noch nicht gefunden worden war, galten die jungen Männer nach wie vor als verdächtig. Dadurch wurde ihr Leben so unerträglich, dass sie die Stadt verlassen mussten. Lacour fand Arbeit in der Kleinstadt Vienne im Rhonetal, etwa auf halbem Weg zwischen Beaurepaire und Lyon. François und Eugène meldeten sich freiwillig zum Militärdienst in Algerien.
Eugénie Delhommes alter Vater war fast 30 Kilometer zu Fuß von Charmes nach Beaurepaire gegangen, um an der Beerdigung seiner Tochter teilzunehmen. Unterwegs sammelte er Blumen und verwob sie liebevoll zu einem Strauß. Während der Beerdigung, an der alle Fabrikarbeiterinnen teilnahmen, legte er den Strauß auf das einfache Holzkreuz, das für Eugénies Grab bestimmt war. Dann warf er sich in die offene Grube und weinte. Tagelang blieb er auf dem Friedhof und klagte mitleiderregend. So wurde er in der Stadt zu einer nahezu geisterhaften Erscheinung, die laut nach Eugénie rief, Rosenkränze verteilte und Fremde bat, für sie zu beten. Schließlich brachte ihn seine Familie in ein Irrenhaus, wo er wenige Monate später starb.
Dieser erste Mord Joseph Vachers hatte auch ihn selbst überrascht. Er erinnerte sich daran, den Weg entlanggewandert zu sein und eine junge Frau getroffen zu haben. Irgendetwas – ein dumpfes Geräusch, ein Lichtblitz – löste ein seltsames Gefühl in ihm aus.
»Eine Art Fieber überkam mich … Abscheu und Wahnsinn«, erklärte er später. »Ich versuchte, mich zu beherrschen, aber die Wut machte mich stärker. Ich vergaß alles um mich herum und stürzte mich auf das Opfer.«
Nachdem er die Leiche hinter eine Hecke geschleift hatte, wusch er sich in einem Rinnsal und ging weiter. Bald befand er sich in einem anderen Departement, wo niemand von dem Verbrechen gehört hatte.
So begann »dieses schreckliche, unstete und rätselhafte Leben. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte«, sagte er. »Von da an habe ich diesen Sack voller Gräuel, den man mir in Dole mitgegeben hatte, in allen vier Ecken Frankreichs ausgeleert.«
Vier Das gerichtsmedizinische Institut
Das Institut für Gerichtsmedizin in Lyon belegte zwei Stockwerke eines Gebäudes, das gegenüber dem Krankenhaus Hôtel Dieu auf der anderen Seite der Rhone stand, in derselben Straße wie die medizinische Fakultät der Universität. Dort, zwischen den anmutig-würdevollen Hochschulgebäuden mit ihren Kuppeln, bemühte sich Alexandre Lacassagne, aus der Gerichtsmedizin eine moderne Wissenschaft zu machen. Sie sollte ein neues Fach werden, das auf praktischer Ausbildung, umfangreicher Forschung und standardisierten Verfahren basierte. Das Ganze war sicher nicht so glanzvoll wie Pasteurs Entdeckungen oder Darwins Theorie, die den Verlauf der Geschichte änderte. Vielleicht ist sein Name aus diesem Grund fast vergessen. Aber wenn es um den Nutzen für die Menschheit geht – Schurken kamen vor Gericht, Unschuldige wurden freigesprochen, die Gesellschaft wurde zivilisierter –, hatte Lacassagnes Arbeit eine enorme Wirkung.
Die Forensik war ein neues Fachgebiet der jahrtausendealten Medizin. Manche Gelehrte sehen ihre Wurzeln im Zeitalter der Griechen und Römer und im Mittelalter, aber das ist eher Rhetorik als Realität. Viele vertreten die Auffassung, dass ein chinesisches Buch aus dem 13. Jahrhundert mit dem Titel Hsi-yuan lu
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