Der Wandermoerder
(Anweisungen für Leichenbeschauer) der erste Text über die Untersuchung verdächtiger Todesfälle sei. Das Dokument empfahl den Beamten, die Leiche sorgfältig auf Wunden zu untersuchen und vor allem die Form von Wunden über lebenswichtigen Organen mit der Form der am Tatort gefundenen Waffen zu vergleichen. Aber das Werk enthielt auch unsinnige Behauptungen, zum Beispiel, dass ertrunkene Männer mit dem Gesicht nach unten, ertrunkene Frauen jedoch mit dem Gesicht nach oben auf dem Wasser treiben. 1533 setzte der deutsche Kaiser Karl V. ein Strafgesetzbuch mit dem Titel Constitutio Criminalis Carolina in Kraft, das bei gewaltsamem Tod eine »gründliche Untersuchung und, wenn notwendig, eine Leichenöffnung« verlangte. Dieses Werk legte zwar den rechtlichen Grundstein für die Gerichtsmedizin, aber es war ein Produkt seiner Zeit. Anstatt Autopsien des ganzen Körpers zu erlauben (die der Kirche nicht genehm waren), riet es den Leichenbeschauern, einfach die Wunden zu erweitern, um ihren Winkel und ihre Tiefe zu messen. Zudem legte es Strafen für Hexerei fest und enthielt Richtlinien für die Befragung durch Folter.
Als die Kirche ihr Autopsieverbot lockerte, nahm das Wissen über die Anatomie des Menschen zu. Die Ärzte erkannten, dass der Körper nicht vier hin und her schwappende Säfte beinhaltete, die sich in einem labilen Gleichgewicht befanden, sondern Organe, zu denen unter anderem Lungen und ein Herz als Blutpumpe gehörten. Auch die Folgen von Gewalteinwirkung auf den Körper wurden klarer. 1975 schrieb Ambroise Paré, ein Bader und Militärarzt, der Chirurg bei vier Königen war, das erste seiner Bücher, die Leichenbeschauer über Wunden, Knochenbrüche und Schäden an inneren Organen aufklärten. Später schrieb Paolo Zacchia, der Arzt zweier Päpste, in Rom medizinische Abhandlungen über die Symptome einer Vergiftung, einer Abtreibung und eines gewaltsamen Todes. Deutsche Ärzte entwickelten den »hydrastatischen Test«, der bei Verdacht auf Kindstötung angewandt wurde. Sie entfernten die Lungen des Kindes und legten sie in Wasser. Wenn sie oben schwammen, war das Kind lebend geboren worden und hatte geatmet, wenn nicht, handelte es sich um eine Totgeburt.
Aber auch all diese Werke spiegelten die Überzeugungen ihrer Zeit wider. Die meisten Autoren glaubten noch an Zauberei und gaben Anleitungen für den Gebrauch der Folter. Bis zum 18. Jahrhundert waren Ärzte davon überzeugt, dass der Teufel Frauen schwängern könne und dass schwere Alkoholiker durch spontane Entzündungen verbrennen konnten. Viele glaubten, dass die Wunden einer Leiche erneut anfangen würden zu bluten, wenn man den Mörder mit seinem Opfer konfrontiere.
Erst im 19. Jahrhundert machten aufeinander basierende gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen eine moderne Gerichtsmedizin möglich. Nach der Französischen Revolution verlor die Kirche die Aufsicht über die Krankenhäuser an den Staat und die Ärzte, und es gab viel mehr Autopsien (viele »Helden des Fallbeils« wurden seziert). Die Folter war in der modernen Welt auf dem Rückzug, sodass Staatsanwälte gezwungen waren, andere Methoden anzuwenden, um Verbrechen aufzuklären – zum Beispiel das Prüfen von Beweisen. Die Chemie reifte schnell zu einer Wissenschaft heran. Man konnte Gifte im Labor analysieren, beispielsweise das geruch- und geschmacklose Arsen, das choleraähnliche Symptome hervorrief und bis dahin nicht nachweisbar gewesen war. 2 Dank der Bakteriologie, deren Pioniere Pasteur und Robert Koch gewesen waren, verstanden die Gerichtsmediziner nun den Prozess der Verwesung und die Veränderungen, die sich mit der Zeit in einer Leiche abspielen. Die medizinische Autopsie wurde zur Routine, ebenso die Gewebeuntersuchung unter dem Mikroskop und die spektroskopische Blutanalyse. Viele große europäische Universitäten richteten Lehrstühle für Gerichtsmedizin ein, darunter Edinburgh, Berlin, Krakau, Prag, Wien und Moskau.
Doch wie bei jeder neuen Wissenschaft setzte sich die Theorie schneller durch als die Praxis. Gerichte, denen falsche forensische Befunde vorgelegt wurden, fällten daher zuweilen falsche und sogar schreckliche Urteile.
Das geschah auch 1887 im berühmten Fall Pauline Druaux in der Kleinstadt Malaunay nordöstlich von Paris. Am Ostermorgen hörten Passanten eine Frau aus dem Fenster ihrer Wohnung um Hilfe rufen. Als sie hineinliefen, fanden sie Pauline Druaux über die Leichen ihres Mannes und ihres Schwagers gebeugt vor.
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