Der Wandermoerder
seinem Vademecum ab und stellte Zusammenhänge zwischen der Zahnentwicklung und dem Alter her. Die Zähne gaben auch noch andere Hinweise, die Rückschlüsse zuließen. Zum Beispiel verrieten sie, ob ein Opfer geraucht hatte (Tabakflecken oder Abnutzung durch Kauen am Pfeifenstiel), was es gegessen hatte und wie gesund es gewesen war. Verkümmerte Zähne mit dünnem oder schartigem Schmelz enthüllten, dass das Opfer aufgrund von Kalziummangel an Rachitis gelitten hatte. Zähne, die wie Pfähle aussahen oder eingekerbt waren, deuteten darauf hin, dass das Opfer im Leib seiner infizierten Mutter Syphilis bekommen hatte.
Magitot schrieb in Lacassagnes Zeitschrift einen Bericht über einen seiner berühmtesten Fälle. Dabei ging es um Ludwig XVII., den Sohn von König Ludwig XVI. und Marie Antoinette, die während der Revolution hingerichtet worden waren. Da die Revolutionäre eine Wiederauferstehung der Monarchie gefürchtet hatten, hatten sie den achtjährigen Thronfolger ins Gefängnis geworfen, wo er zwei Monate nach seinem zehnten Geburtstag gestorben war. 1795 wurde er im Pariser Friedhof Sainte-Marguerite in einem anonymen Grab an der Kirchenmauer beerdigt. Seither hatten sich viele gefragt, welches Grab es wohl war und wie der Knabe, der sogenannte »verlorene Dauphin«, genau gestorben war.
Im Jahr 1894 erhielt ein prominenter Pariser Anwalt die Erlaubnis, in der Nähe der Kirchenmauer zu graben. Dabei fand er einen Sarg mit der Aufschrift »L… XVII«. Waren dies die Überreste des Thronfolgers? Er stellte ein forensisches Team zusammen, dem unter anderem Léonce Manouvrier angehörte, der ähnliche Tabellen über Knochenlängen erstellt hatte wie Rollet. Émile Magitot war ebenfalls dabei, denn er sollte das Gebiss untersuchen.
Magitots Studie war ein Meisterwerk. Zunächst stellte er fest, dass der größte Teil des Gebisses zum Zeitpunkt des Todes erhalten gewesen war. Ein paar Zähne fehlten zwar, da die Lücken jedoch nicht verheilt waren, mussten sie nach dem Tod entfernt worden sein. Insgesamt hatte der Verstorbene 27 Zähne gehabt. Magitot nutzte sein Wissen über die Entwicklung der Zähne, um das Alter des Opfers nach und nach genau zu bestimmen. Die vorderen Zähne, die Eckzähne und die zweihöckrigen Zähne entwickelten sich beispielsweise in der frühen Kindheit, was ein Mindestalter von fünf oder sechs Jahren bedeutete. Da keine Milchzähne mehr vorhanden waren, musste der Knabe mindestens zwölf Jahre alt gewesen sein.
Dann wandte Magitot sich dem fehlenden ersten Backenzahn des rechten Unterkiefers zu, der eine Lücke zwischen dem zweiten Backenzahn und dem zweihöckrigen Zahn hinterlassen hatte. Aber im Gegensatz zu den anderen Lücken im Gebiss war diese Lücke verheilt, was darauf schließen ließ, dass dieser Zahn zu Lebzeiten des Opfers entfernt worden war. Dies bedeutete ein Mindestalter von zwölf bis 13 Jahren. Nach der Extraktion war der zweite Mahlzahn schräg in die Lücke hineingewachsen, und zwar so weit, dass er die Lücke vollständig gefüllt hatte und an den zweihöckrigen Zahn gestoßen war. Das alles musste mehrere Jahre gedauert haben, schrieb Magitot, wodurch sich das Mindestalter auf 16 erhöhte.
Zum Schluss suchte er nach den Weisheitszähnen, die in der Regel im Alter von Anfang 20 wachsen. Sie waren jedoch noch nicht vorhanden, allerdings fand er ihre Kronen knapp unterhalb des Zahnfleischniveaus. Gestützt auf diese Fakten, schätzte er das Alter des Opfers zur Zeit seines Todes auf 18 bis 20 Jahre. Die sterblichen Überreste im Sarg waren also bestimmt nicht die von Louis XVII.
Sieben
Der Eichenwald
Augustine Mortureux war das jüngste von sieben Kindern, die auf einem Bauernhof im Dorf Étaules, etwa zehn Kilometer nördlich von Dijon, aufgewachsen waren. Die Tochter eines Holzfällers hatte nichts von der Härte ihres Vaters oder ihrer Schwestern an sich. Selbst mit 17 Jahren war sie noch sehr zart und fürchtete sich oft. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass sie der Liebling ihrer Mutter war.
Am 12. Mai 1895 wachte Augustine von Angst gepeinigt auf. Eine ihrer Schwestern, die in einer benachbarten Stadt lebte, war krank und hatte darum gebeten, dass ein Familienmitglied sie besuchte. Weil der Vater und die Mutter aber unabkömmlich waren, hatten sie Augustine beauftragt, sich um ihre Schwester zu kümmern. Obwohl sie eine viel befahrene Landstraße benutzen konnte, zitterte sie bei dem Gedanken, zum ersten Mal allein durch den Bois du Chêne zu
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