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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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einer Leiche und den Mord an einem alten Mann und dessen Diener mit einem Beil –, ihn aber aus Mangel an Beweisen freilassen müssen.
    Am Vorabend des Prozesses sprengten Anarchisten das Restaurant, in dem Ravachol verhaftet worden war, in die Luft. Damit wollten sie den Staatsanwalt einschüchtern. Das gelang ihnen wohl auch: Denn der Ankläger behandelte Ravachol überaus zuvorkommend und beantragte eine lebenslange Gefängnisstrafe anstatt der vorgeschriebenen Todesstrafe. Doch zwei Monate später wurde Ravachol in ein Gerichtsgebäude in der Nähe von Lyon gebracht, wo ihm wegen der Delikte der Prozess gemacht wurde, die er als Koenigstein begangen hatte. Unbeeindruckt von den Ereignissen in Paris, schickte der Richter den Angeklagten auf die Guillotine.
    Bertillon war ebenso wie Lacassagne einer der Gründer und Herausgeber der Archives de l’anthropologie criminelle . Ihre einzige ernste Meinungsverschiedenheit hatten sie während der berüchtigten Dreyfus-Affäre Mitte der neunziger Jahre, als Bertillon seine Dienste als Handschriftenexperte anbot und erklärte, Dreyfus habe in einem Brief Staatsgeheimnisse an Deutschland verraten. Lacassagne, ein überzeugter Anhänger von Dreyfus, riet Bertillon, sich nicht auf die Graphologie einzulassen, weil diese jenseits seines Fachgebietes liege. Doch Bertillon pfuschte weiter. Der darauffolgende Skandal erschütterte seinen Ruf und raubte ihm nach Lacassagnes Meinung alle Chancen auf den Nobelpreis.
    Während Bertillon daran arbeitete, die Identität eines lebenden Menschen in kleine, messbare Teile zu zerlegen, ging Lacassagne in die andere Richtung: Er rekonstruierte die Identität einer Leiche, indem er kleine Teile zu einem Ganzen zusammenfügte. Die naheliegendste Methode, eine Leiche zu identifizieren, war der Augenschein. Darum waren Leichenhallen für die Polizeiarbeit so wichtig. Allerdings erkannten viele Angehörige die sterblichen Überreste eines Familienmitglieds nicht. Wenn die Verwesung eingesetzt hatte (was bei fehlender Kühlung schnell geschah), war es schwierig, die Leiche auch nur anzusehen, und noch schwieriger, sie zu identifizieren. Zudem sei Verstümmelung im Katz-und-Maus-Spiel zwischen Verbrechern und der Polizei zur Mode geworden, schrieb Lacassagne. Ende der Achtzigerjahre ging die Polizei dazu über, die Spuren vermisster Personen mithilfe von Fotos und dem Telegrafensystem zu verfolgen. Daraufhin begannen die Kriminellen, ihre Opfer zu enthaupten oder zu verstümmeln, sodass sie schwerer zu identifizieren waren. Oft standen den Ermittlern nur wenige Körperteile zur Verfügung.
    Lacassagne und seine Kollegen rieten der Polizei, nach kleinen, untilgbaren Merkmalen zu suchen, zum Beispiel nach Narben. Doch auch diese veränderten sich mit der Zeit: Frische Narben waren weich und rosa, nach ein bis zwei Monaten wurden sie härter und bräunlich weiß, und später waren sie hart, dick, weiß und glänzend. Narben, die in der Kindheit entstanden waren, konnten bei Erwachsenen verschwunden sein. Es gab spezielle Narben, deren Herkunft Ärzte bestimmen können mussten. Peitschenhiebe, damals unter Seeleuten gebräuchlich, hinterließen »dünne weiße Linien zwischen kleinen, runden, von den Knoten verursachten Mulden«, hieß es in einem forensischen Lehrbuch. Aderlässe, eine verbreitete Therapie, erzeugten schmale weiße Linien entlang eines Blutgefäßes. Die von Blutegeln verursachten Narben schrumpften allmählich und waren dann schwer zu entdecken. Man brauchte sehr scharfe Augen, um die typischen drei Punkte zu erkennen.
    Tätowierungen hatten den Vorteil, dass sie zusätzlich etwas über den Charakter des Opfers verrieten – Beruf, politische Einstellung, sexuelle Neigungen. Lacassagne hatte Tätowierungen als »sprechende Narben« bezeichnet. (Um die Polizei zu täuschen, veränderten Ganoven häufig ihre Tätowierungen. Sie fügten neue Elemente hinzu oder versuchten, welche zu entfernen.) Andere Hautauffälligkeiten deuteten auf den Beruf des Opfers hin: Wäscherinnen und Schneider hatten punktförmige Narben an den Fingerkuppen; Musiker, die Saitenins­trumente spielten, wiesen Schwielen an den Fingerkuppen auf; bei Männern, die in den Kolonien in Kobaltminen gearbeitet hatten, war das Haar bläulich verfärbt; Arbeiter in Kupferminen hatten eine grünliche Haut; und Hersteller von Anilinfarben hatten tiefbraune Flecken auf der Haut.
    Solche Details waren nützliche Hinweise für Rückschlüsse auf die Identität, aber sie

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