Der Wandermoerder
Louis-Albert Fonfrède, der örtliche Untersuchungsrichter, und ein Staatsanwalt aus Dijon namens Tondut. Sie verdächtigten sofort den unbekannten Landstreicher, den Messner und andere in der Gegend gesehen hatten, und sammelten Zeugenaussagen. Mehrere Leute hatten an diesem Tag auf der Straße einen grimmig aussehenden Vagabunden mit grauer Hose, zerlumptem blauen Hemd und Schuhen mit Holzsohlen gesehen. Fonfrède schickte daraufhin eine Meldung an die benachbarten Bezirke und forderte die Leute auf, nach einem Mann Ausschau zu halten, auf den die Beschreibung passte. In Paris und Lyon verbreiteten sogar Zeitungen diese Meldung.
In den folgenden anderthalb Wochen ging die Fahndung ganz normal weiter. Polizisten in der Umgebung nahmen mehrere Verdächtige fest, verhörten sie und ließen sie dann frei. Aber es gab auch Gerüchte, die Eugène Grenier betrafen. Viele beneideten ihn um seinen Reichtum und erinnerten nun daran, dass er in seiner Jugend faul gewesen sei und ausschweifend gelebt habe (obwohl er jetzt respektabel verheiratet war und Kinder hatte). Manche mutmaßten sogar, dass Grenier Augustines Leiche deshalb so schnell entdeckt habe, weil er genau gewusst habe, wo sie lag. Andere meinten, Grenier habe sich dem Mädchen aufdrängen wollen und sie getötet, weil sie ihn abgewiesen habe. Dabei spielte es keine Rolle, dass er bisher nie aggressiv oder gewalttätig gewesen war.
Fonfrède und Tondut befragten Grenier und seine Frau einzeln und sprachen auch mit mehreren ihrer Angestellten. Sie überprüften ihre Alibis und setzten sie dann auf freien Fuß. Aber das Martyrium der Greniers hatte erst begonnen.
Im 19. Jahrhundert breitete sich die penny press rasend schnell aus. Als Vorläuferin der modernen Massenmedien hatte sie ihren Namen erhalten, weil eine Zeitung nur einen oder zwei Pennys kostete. Wie Großbritannien und die USA eroberte sie auch Frankreich im Sturm. Nach jahrzehntelanger Zensur stärkten neue Gesetze zur Pressefreiheit den französischen Journalismus. Neue Techniken, darunter die Zeilensetzmaschine, die es ermöglichte, Texte fast so schnell zu setzen wie auf der Schreibmaschine zu schreiben, und die Druckpresse, sorgten dafür, dass eine große Anzahl von Zeitungen schnell und billig hergestellt werden konnte. Der Telegraf versetzte Korrespondenten in die Lage, Berichte aus fernen Winkeln der Welt und aus ebenso abgelegenen Winkeln Frankreichs zu übermitteln. Die Zahl der Menschen, die lesen konnten, stieg ebenfalls rasch, und das verschaffte der Presse Millionen neue Leser. Zudem führte die aufkeimende Werbeindustrie zu Einnahmen über die Beträge hinaus, die mit den billigen Zeitungen erzielbar waren.
Dieses Zusammenwirken sozialer, technischer und wirtschaftlicher Faktoren führte zur ersten Medienexplosion der Welt. Allein in Paris erschienen zur Zeit der Jahrhundertwende 79 Tageszeitungen. Le Petit Parisien , damals die größte Zeitung der Welt, hatte anderthalb Millionen Leser, die »großen vier« unter den Pariser Zeitungen 7 brachten es zusammen auf über vier Millionen. Im ganzen Land gab es 257 Tageszeitungen und Hunderte von Zeitungen, die wöchentlich, alle zwei Wochen oder alle drei Wochen erschienen. Hinzu kamen Flugblätter und Extrablätter.
Angesichts einer halbgebildeten Leserschaft und eines knallharten Wettbewerbs brauchten die Zeitungen wie die amerikanischen und britischen Blätter Schlagzeilen, die Aufmerksamkeit erregten. Verbrechen waren da ein beliebtes Thema, nicht nur weil die Kriminalität zunahm, sondern auch, weil die Artikel so spektakulär waren. Zeitungen lamentierten über das »Heer von Verbrechern«, das Frankreich terrorisierte, seien es die Jugendbanden in den Städten, »Apachen« genannt, oder die unzivilisierten »Vagabunden«, die das Landvolk anbettelten. Verbrechen waren Dramen, und nichts fesselte die Leser mehr als Geschichten über einen Mann, den eine eifersüchtige Geliebte erschossen hatte, oder über eine Frau, die von einer Ganovenbande missbraucht worden war. » Sang à la une! «, lautete die Devise: Die blutigsten Artikel gehörten auf die Titelseite. Die weiblichen Opfer waren dabei immer schön, tugendhaft und kämpften tapfer bis zum Tod. Einige Zeitungen berichteten beispielsweise, Augustine Mortureux habe mutig gekämpft – obwohl es Beweise für ihren schnellen Tod gab. Da viele Fälle ungelöst blieben, schickten große Zeitungen Korrespondenten an die Schauplätze berühmter Verbrechen, um zu versuchen, die
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