Der Wandermoerder
hielten nur so lange wie die Haut. Wie Lacassagne im Fall Gouffé und anderen Fällen gezeigt hatte, konnten einzelne Knochen die Größe eines Opfers und in gewissem Umfang seine Krankengeschichte offenbaren. Außerdem hatten er und seine Kollegen herausgefunden, wie sie anhand von Knochenfragmenten das Alter schätzen konnten.
Skelette hatten die Anatomen seit Langem fasziniert, wenn auch eher wegen ihrer mechanischen als ihrer biologischen Eigenschaften. Sogar Leonardo da Vinci, ein Meister der Anatomie und anatomischer Zeichner, betrachtete Knochen vor allem als Hebel. Erst im 19. Jahrhundert hatten die Wissenschaftler so viel Interesse an Knochen, dass sie ihre biologische Vielfalt und ihre typischen Wachstumsphasen studierten. Sie stellten fest, dass bestimmte Knochen in den ersten Lebenswochen hart wurden, während andere, die wie ein solides Stück aussahen, zum Beispiel der Schädel und das Becken, in Wirklichkeit aus mehreren Knochen bestanden, die in der Jugend verschmolzen. Manche Knochen, die bei jungen Erwachsenen scheinbar voll entwickelt waren, beispielsweise die langen Knochen der Arme und Beine, wiesen Stellen auf, die weiterwuchsen. Typisch für diese Epiphysenfugen waren Gruben an den Enden des Knochenschaftes.
Lacassagne nutzte dieses Wissen für die Kriminalistik. Sein Vademecum du médecin-expert enthielt elf Seiten mit Tabellen, aus denen man die Verknöcherungsraten von 37 Knochen ablesen konnte. Außerdem ging aus ihnen hervor, in welchem Alter die Verknöcherung in der Regel eintritt – angefangen von den ersten Lebensjahren, in denen die großen Schädelknochen verschmelzen, bis Mitte der Zwanzigerjahre, wenn die Wirbel des Kreuzbeins am unteren Ende der Wirbelsäule verwachsen. Dank dieser Informationen konnte ein Arzt, dem nur ein Bruchstück des Skeletts zur Verfügung stand, das Alter des Opfers seriös schätzen und mit der Identifizierung beginnen.
Manchmal hatte der Arzt nicht einmal einen Knochen, mit dem er arbeiten konnte. In solchen Fällen fand er vielleicht einen Kopf oder einen Teil eines Kopfes, verbrannt, in einem Fluss versenkt oder (beunruhigend oft) in eine Latrine geworfen. Dann musste der Arzt Schlüsse aus den kleinsten und haltbarsten Körperteilen ziehen. Zahnschmelz, die härteste Substanz des Körpers, besteht aus einer mineralischen Form von Kalzium, die Jahrtausende überdauert. Zähne sind härter als Kupfer, ähnlich hart wie Stahl und fast so hart wie Mineralien in Edelsteinqualität. Diese Haltbarkeit und die Tatsache, dass Zahnärzte die Zähne ihrer Patienten in ihren Akten beschreiben und ihre Arbeit dokumentieren, machte das Gebiss zu einem natürlichen Hilfsmittel für die Identifizierung. Paul Revere, ein Zahnarzt und Silberschmied, identifizierte seinen Freund Dr. John Warren, der während der Revolution getötet und begraben worden war, anhand eines künstlichen Zahnes, den er ihm implantiert hatte.
Die Anwendungsmöglichkeiten dieser einfachen Methode waren jedoch begrenzt, denn sie setzten voraus, dass man die Identität des Opfers bereits kannte und vom Zahnarzt lediglich bestätigen ließ. Viele Mordopfer waren jedoch unbekannt, daher musste ein Gerichtsmediziner wie bei Knochen auch über Zähne und ihr Wachstum genauer Bescheid wissen. Dieses Wissen entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als mehrere Wissenschaftler, vor allem Dr. Émile Magitot in Paris, die natürliche Entwicklungsgeschichte der Zähne studierten – und sie nicht nur als simple Kauwerkzeuge ansahen, sondern als lebendes menschliches Gewebe mit Wachstumsstadien und diversen Krankheiten. Magitot war einer der Ersten, die Pasteurs Keimtheorie nutzten, um den Zahnverfall zu erklären. Karies wurde offensichtlich nicht von einem »Zahnwurm« oder von saurem Essen verursacht, sondern von Bakterien, die Nahrungsreste zwischen den Zähnen vergären ließen. Noch wichtiger für die Gerichtsmedizin waren seine Forschungsergebnisse bezüglich der Zahnentwicklung – angefangen von sackähnlichen Follikeln beim Embryo über die Milchzähne und Backenzähne des Kindes, die Weisheitszähne der Erwachsenen bis zum Verfall und Ausfall im zunehmenden Alter.
Dank Magitots Studien wurde die Zahnheilkunde zu einem unentbehrlichen Teil der Forensik und zu einem Standardthema in den Lehrbüchern. Lacassagne wies seine Studenten an, Dissertationen darüber zu schreiben, wie man Magitots Arbeit für die Gerichtsmedizin nutzbar machen konnte. Diese druckte er dann zum Nachschlagen in
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