Der Wandermoerder
Viertel auf nunmehr eins zu 64 verringern. Zum Schluss rechnete er aus, dass er mit elf Maßen die Wahrscheinlichkeit für eine vollständige Übereinstimmung bei zwei Erwachsenen auf unter eins zu vier Millionen senken konnte. So schuf er Jahre vor der Einführung der Fingerabdrücke ein System, das bald auf der ganzen Welt angewandt wurde, um Personen zu identifizieren.
Bei der Bertillonage, wie die Methode genannt wurde, nahm ein geschulter Experte elf Messungen vor, darunter die Länge und Breite des Kopfes, die Körpergröße und die Länge des linken Fußes, und trug sie auf einer Karteikarte oder fiche anthropomorphique ein. Die Polizei bewahrte diese Karte zusammen mit Tausenden anderen auf, geordnet nach den einander überlappenden Kategorien »klein«, »mittel« und »groß« für Größe, Kopflänge, Fußlänge und so weiter. Das System war so logisch und einfach, dass ein geübter Beamter es innerhalb von wenigen Minuten anwenden und eine Person damit identifizieren konnte. In den ersten zwölf Monaten, dem Probejahr, identifizierte Bertillon so 300 Rückfalltäter. Ende dieses Jahres führten alle französischen Gefängnisse diese Methode ein, und 1888 wurde sie in allen Polizeirevieren Pflicht. Bald übernahmen Polizeibehörden auf der ganzen Welt das System, darunter jene in anderen westeuropäischen Ländern sowie in Indien und Russland. 1897 führte der Vorläufer des FBI, das National Bureau of Identification, die Methode ebenfalls ein. Später wurde ein System entwickelt, mit dem man Bertillon-Zahlen kodieren und telegrafisch übermitteln konnte. Zum ersten Mal konnte nun die Polizei in fremden Ländern – sogar in Übersee – über die Identität eines flüchtigen Verbrechers informiert werden, noch bevor dieser dort ankam.
»Der Gefangene, den [Bertillon] in die Hände bekommen hat, ist … für immer ›gezeichnet‹«, schrieb die amerikanische Journalistin Ida Tarbell, die Bertillon in seinem Labor besuchte.
Einerlei, ob er seine Tätowierungen unkenntlich macht, die Brust einzieht, das Haar färbt, sich Narben zufügt oder seine Größe falsch angibt, es nützt nichts. Die Daten sind unfehlbar. Er kann die Bertillon-Archive nicht verlassen, ohne erkannt zu werden, und wenn er auf freiem Fuß ist, können die unbarmherzigen Daten ihm in jeden Winkel der Erde folgen, falls es dort eine Druckerpresse gibt, und jeder, der sie liest, kann zum Detektiv werden, denn er besitzt die Informationen, die den Gauner identifizieren können. Er wird nie wieder in Sicherheit sein.
Mit der Zeit ergänzte Bertillon sein System mit Fotos. Er fotografierte das Gesicht von vorne und im Profil. Er legte dabei so großen Wert auf Präzision, dass der Stuhl und das Kamerastativ im Boden verschraubt wurden. Die Methode wurde bald weltweit angewandt, in den USA unter dem Namen mug shot (Fahndungsfoto). Später fügte er den Karteikarten Beschreibungen hinzu, etwa von Leberflecken und Tätowierungen, und nannte das Dossier portrait parlé (sprechendes Porträt).
Bertillons berühmtester Fall betraf den schlimmsten Terroristen seiner Zeit, einen polternden Anarchisten namens Ravachol. Die anarchistische Bewegung war seit den Siebzigerjahren gewachsen. Begonnen hatte sie als politische Strömung, die jedoch immer gewalttätiger wurde. Offener Widerstand und Aufbegehren eskalierten zu blutigen Auseinandersetzungen. 6 Der Terrorismus gewann an Schlagkraft, als das Dynamit erfunden wurde, die erste leicht erhältliche Massenvernichtungswaffe. 1892, nach Zusammenstößen zwischen Anarchisten und der Polizei, explodierte mitten in Paris eine Bombe und zerstörte die Wohnung eines Richters. Eine weitere Explosion demolierte das Haus eines Staatsanwalts und verletzte mehrere Menschen schwer.
Nach wochenlangen vergeblichen Ermittlungen der Polizei verriet ein Informant, dass Ravachol die Bombe gezündet hatte. Diese schemenhafte Gestalt bezeichnete sich als Rächer der Arbeiterklasse, aber niemand wusste, um wen es sich genau handelte. Als die Polizei erfuhr, wo der Anarchist zu Mittag aß, stürmte sie das Café und nahm ihn fest. In der Präfektur vermaß Bertillon daraufhin den Verdächtigen sorgfältig, ging zu seiner Kartei und identifizierte Ravachol wenige Minuten später als François-Claudius Koenigstein, einen gewalttätigen, gewöhnlichen Kriminellen, der drei Jahre zuvor in der Nähe von Lyon verhaftet worden war. Man hatte ihm mehrere Straftaten vorgeworfen – unter anderem die Ausgrabung und Beraubung
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