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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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verdammt sei. Bald nach diesem Fall beendete Goron seinen kurzen Abstecher in den Journalismus und gründete eines der ersten Detektivbüros in Europa.
    Einige Wochen später kehrten Fonfrède und Tondut aus dem Urlaub zurück. Entsetzt darüber, was in ihrer Abwesenheit geschehen war, zitierten sie Rouard in ihr Büro, um ihn offiziell zu vernehmen. Als er vor einer Gruppe von Justizbeamten stand, wiederholte er seine Behauptung, dass er Grenier am Tatort gesehen habe.
    »Sehen Sie ihn auch jetzt?«, fragte ihn jemand.
    »Ja, er steht rechts neben Ihnen.«
    Der Mann hinter ihnen stand auf und stellte sich als Monsieur Bourdon vor, stellvertretender Staatsanwalt.
    Inzwischen saß Grenier seit 45 Tagen im Gefängnis. Als Polizisten seine beiden Zellengenossen befragten, behaupteten diese, Grenier sei zweifellos der Mörder – er habe es im Schlaf zugegeben. Doch als man die beiden einzeln verhörte, stimmten ihre Geschichten nicht überein. Daraufhin wurde Grenier freigelassen.
    Mehrere Kilometer entfernt versammelte sich ein Mob auf der Straße, die vom Gerichtsgebäude zu Greniers Haus führte. In der zunehmenden Dämmerung waren die Lampen seiner Kutsche von Weitem zu sehen. Einige Männer verteilten sich auf der Straße. Als der Kutscher anhielt, um sie nicht zu überfahren, näherten sich mehrere Männer von der Seite und rissen ihm die Zügel aus den Händen. Der Kutscher fluchte und griff nach seiner Pistole, aber ein Dutzend Hände packten ihn. Dann schlug ihm jemand mit einem Knüppel auf den Kopf. Mehrere Männer sprangen auf die Trittbretter und rissen die Türen auf, doch die Kutsche war leer. Grenier hatte einen Überfall erwartet und war mit dem Zug in das etwa 40 Kilometer entfernte Saint-Jean-de-Losne geflohen, wo seine Schwiegereltern lebten. Seine Frau und seine Kinder folgten ihm und kehrten nie wieder nach Hause zurück.

Acht Die Leiche spricht
    Wenn man aus Greniers Leiden eine Lehre ziehen konnte, dann diese: Die Aussage eines »Zeugen«, egal, ob sie vor Gericht stattfand oder dazu diente, eine Menschenmenge anzustacheln, war nicht immer glaubhaft und trug oft nicht dazu bei, einen Kriminalfall zu lösen. Schon vor einigen Jahren hatten Kriminologen und Psychologen festgestellt, dass selbst echte Zeugen nicht unbedingt zuverlässig waren. Es gab viele Gründe zu lügen: Eifersucht, Hass, Verleumdung, Oberflächlichkeit, Unwissenheit und Furcht. In einem Buch über falsche Zeugenaussagen schrieb Émile Fourquet über Menschen wie Rouard, die nichts wussten und dennoch »aussagten«. Sie wollten einfach »eine Rolle in einem denkwürdigen Fall spielen«.
    Psychiater fanden heraus, dass manche Zeugen zwar logen, aber davon überzeugt waren, die Wahrheit zu sagen. In einer Analyse des Falles Tisza-Eslar schrieb der Neurologe und Hypnoseexperte Dr. Hippolyte Bernheim, dass der vierzehnjährige Moritz Scharf, ohnehin ein einfacher und leicht zu beeinflussender Junge, so verängstigt gewesen und derart unter Druck gesetzt worden sei, dass er in eine Art Hypnose gefallen sei und seinen eigenen Vater fälschlicherweise des Mordes bezichtigt habe. Bernheim bezeichnete dieses Phänomen als »retroaktive Halluzination« – ein Zustand, in dem Menschen, die unter Druck stehen, glauben, dass ihre falsche Aussage richtig sei. Moderne Psychologen sprechen hier von »falscher Erinnerung«. Strafverteidiger kritisierten »präventive Festnahmen« und Vernehmungstechniken, die Zeugen zu den Aussagen nötigten, welche die Polizei hören wollte. »Welchen Unterschied gibt es eigentlich zwischen dem [mittelalterlichen] Folterer … und dem Polizisten, der den Verdächtigen ohne Unterlass bis zur Erschöpfung plagt?«, schrieben Maurice Lailler und Henri Vonoven 1897 in ihrem Buch Les Erreurs judiciaires et leurs causes (Justizirrtümer und ihre Ursachen). »Psychische Folter ist weniger brutal und raffinierter, aber sie hat die gleiche Wirkung.« Andere behaupteten, den Vorurteilen ihrer Zeit gemäß, dass bestimmte Menschen grundsätzlich unzuverlässig seien. »Frauen lügen«, schrieb der Schriftsteller und Gesellschaftskritiker ­Émile Zola, der ansonsten mit den Machtlosen in der Gesellschaft sympathisierte. »Sie belügen jeden – Richter, ihre Geliebten, ihre Zimmermädchen und sogar sich selbst.«
    Menschen mochten lügen, aber Beweise logen nicht, daher wurden sie allmählich zum wichtigsten Standard der Polizeiarbeit. Lacassagne schrieb, es sei an der Zeit, »Zeugenbeweise« durch die »stummen

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