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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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besiedelten. Das bedeutete aber letztlich, den Tod nicht als Ende zu betrachten, sondern als Wendepunkt, an dem einige Prozesse aufhörten und andere begannen.
    Der offensichtlichste Prozess war die Verwesung – die Leiche färbte sich grünlich und sah aufgedunsen aus –, ein Phänomen, das bisher immer rätselhaft gewesen war und deshalb auch Furcht erregt hatte (Francis Bacon führte es auf »unruhige Geister« zurück, die der sterblichen Hülle entfliehen wollten). Mitte des 19. Jahrhunderts machte Pasteur solchem Aberglauben ein Ende, indem er herausfand, wie durch Mikroben eine Gärung entsteht. Er und seine Nachfolger wiesen nach, dass sich Bakterien und Pilze in einer Leiche aus dem Verdauungstrakt ins Gewebe ausbreiten und dieses dann grün färben. Dabei entstehen Gase, die Blut in die peripheren Venen pressen und die Haut anschwellen lassen. Manchmal sickerte dieses Blut aus alten Wunden, was den Mythos nährte, dass Leichen in Gegenwart des Mörders noch einmal bluteten. Da sehr wenige Leichenhallen damals gekühlt wurden, fürchteten die Ärzte den ersten Schnitt mit dem Skalpell, weil dadurch ein Schwall übel riechender Gase freigesetzt wurde. Bevor die Pariser Leichenhalle über Kühlgeräte verfügte, pflegte Brouardel mit einer Nadel in die Leichen zu stechen und dann das ausströmende Gas anzuzünden und abzubrennen. Es kam vor, dass die dabei entstehenden »langen bläulichen Flammen« drei oder vier Tage lang brannten.
    Wissenschaftler versuchten, Zeittafeln für den Verwesungsprozess zu erstellen. Zu diesem Zweck untersuchten sie, welche Bakterienarten welche Körperteile nacheinander kolonisierten. Wie sich herausstellte, waren jedoch sehr viele Bakterienarten beteiligt, und der Beginn der Verwesung war zudem abhängig von der Luftfeuchtigkeit und vom Wetter. Man konnte allenfalls sagen, dass die Verwesung meist nach der Leichenstarre einsetzte und monatelang weiterging.
    Erst 1894 entwickelte ein Pariser Entomologe namens Jean-Pierre Mégnin eine langfristige Zeittafel für Leichenbeschauer. In einem Meisterwerk mit dem Titel Faune des Tombeaux beschrieb er die aufeinanderfolgenden Wellen von Anthropoden – Insekten, Käfer, Milben und andere Tiere –, die Leichen in geordneten und gut vorhersehbaren Schüben besiedelten. Jeder Schub (er nannte ihn Kolonne) bestand aus Spezies, die unter bestimmten Bedingungen gediehen: Sie fraßen, was sie konnten, und verschwanden, wenn ihre Abfallprodukte sich zu stark angesammelt hatten und die Chemie der Leiche sich verändert hatte. Dann machten sie der nächsten Kolonne Platz, die sich unter den neuen Bedingungen wohlfühlte. »Wir staunen darüber, dass … die Arbeiter des Todes sich nur nach und nach an den Tisch begeben, und zwar immer in der gleichen Reihenfolge«, schrieb Mégnin.
    Er benannte acht »Arbeiter des Todes«, mit deren Hilfe ein Arzt das Alter einer Leiche innerhalb eines Zeitrahmens von einem Tag bis drei Jahren bestimmen konnte. Die erste Kolonne bestand beispielsweise aus Stubenfliegen und Schmeißfliegen, die ihre Eier beim Tod oder kurz vorher ablegten und sich etwa einen Monat lang an der Leiche gütlich taten. Danach kamen mehrere Generationen von metallisch grünen Schmeißfliegen (Lucilia) , großen grauen Fleischfliegen (Sarcophaga) und zwei anderen Arten, die einen bis drei Monate blieben. Vom dritten bis zum sechsten Monat übernahm eine dritte Kolonne das Kommando: fleischfressende Käfer und ihre Larven. So ging es weiter, eine Spezies folgte der nächsten, bis die Leiche kaum noch mehr war als eine faserige Hülle, an der immer noch bestimmte Käfer und Motten nagten.
    Um herauszufinden, wie Badoil gestorben war, nutzte Lacassagne die vielen neuen Forschungsergebnisse. Auf der ganzen Welt sezierten Wissenschaftler Mordopfer, hingerichtete Verbrecher, Leichen aus Krankenhäusern und La­bortiere, um die Bedingungen zu rekonstruieren, die ihnen an den Schauplätzen von Verbrechen begegneten, und um die Ergebnisse deuten zu lernen. 8 Sie untersuchten, ob der Tod schnell oder langsam eingetreten war und welche körperlichen Anzeichen auf Mord oder Selbstmord hindeuteten. Lacassagne gehörte zu den eifrigsten Forschern. 1888 schrieb er eine Abhandlung darüber, wie man aus dem Winkel einer Stichwunde ins Herz auf Rechts- oder Linkshändigkeit des Täters schließen konnte. In einer anderen Arbeit analysierte er die Form der Wunden, die das neue Bajonett der Armee einem Opfer zufügte – es wurde neuerdings von

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