Der Wandermoerder
Hemd aus seinem Rucksack geholt. Atemlos und hungrig kam er zu einem Bauernhaus, in dem sich zwei Mädchen aufhielten, und begehrte Einlass. Sie aber schlugen ihm die Tür vor der Nase zu und hetzten ihren Hund auf ihn. Später traf Vacher einen Mann, der ein Abzeichen der Ehrenlegion trug und mit zwei Frauen und einem Kind unterwegs war. Von diesen Leuten erfuhr er, dass es in der Gegend beängstigende Gerüchte über einen Vagabunden mit einem schrecklichem Gesicht gebe, der wie ein Wilder durch die Wälder streife.
Vacher ging weiter, immer nach Nordosten in Richtung Paris. In den folgenden anderthalb Tagen legte er rund 55 Kilometer zurück. Am Montagnachmittag, dem Tag nach dem Mord, machte er halt in dem einfachen Haus einer Witwe, Madame Girardot, und bat sie, sein Mittagessen auf ihrem Herd zu wärmen. Er jammerte, dass er von einem Hund gebissen worden sei, daher wusch und verband sie seine Wunde und bot ihm Brot und Wein an. Nach dem Essen dankte er ihr, segnete sie und begann zu plaudern. Er erzählte ihr von seiner Zeit als Feldwebel und von seinen Wanderungen durch Frankreich. Ob sie von dem schrecklichen Verbrechen im Bois du Chêne in der Nähe von Dijon gehört habe, fragte er schließlich nebenbei. Jemand habe ein Mädchen am Straßenrand umgebracht. Er habe die Leiche selbst gesehen. Er wisse von dem Verbrechen, weil er gegen zehn Uhr morgens am Tatort vorbeigegangen sei, wo er bereits eine Menschenmenge angetroffen habe.
Die Zeitungen hatten noch gar nicht über das Verbrechen berichtet, und die Menschenmenge hatte sich erst am späten Nachmittag versammelt. Aber Madame Girardot wusste das nicht, und sie hatte keinen Grund, an Vachers Geschichte zu zweifeln. Dennoch kam ihr wohl etwas daran seltsam vor, und sie beschloss, ihren erwachsenen Kindern bei ihrem nächsten Besuch von dem Fremden zu erzählen. Sie notierte das Datum auf einem Stück Papier: 13. Mai 1895.
Anderthalb Wochen später tauchte Vacher auf dem Bauernhof eines Mannes namens Lachereuil auf, etwa 16 Kilometer weiter nördlich. Er behauptete, dass er in Paris gewesen sei, berichtigte sich aber einige Augenblicke später und sagte, er komme aus Semur-en-Auxois (wo Madame Girardots Haus stand). Der Bauer bemerkte, dass Vacher zu kleine Schuhe trug und dass er diese vorne aufgeschnitten hatte, damit die Zehen Platz hatten. Vacher erklärte, dass ihm jemand seine Schuhe gestohlen habe, während er am Straßenrand geschlafen habe. Der Bauer gab ihm daher ein paar Holzschuhe, woraufhin Vacher sein Messer aus der Tasche zog, die kleinen Schuhe in Stücke schnitt und diese in einen Bach warf. Nachdem er gegangen war, lief der Bauer, der von dem Mord an Augustine gelesen hatte und sich über das Verhalten des Fremden wunderte, zum Bürgermeister. Dieser beauftragte Polizisten, Vacher zu suchen. Sie befragten ihn kurz, ließen ihn aber wieder gehen, als er ihnen seine Regimentspapiere zeigte.
Doch das Leben in Burgund wurde allmählich gefährlich für ihn. Also wandte Vacher sich nach Süden.
Die Nachricht von dem Mord an Augustine und seinen Folgen hatte Paris erreicht, und die Zeitungen stürzten sich darauf. Im September schickte Le Matin einen Starreporter in die Region Dijon, um zu recherchieren: Marie-François Goron, den Helden des Falles Gouffé und vieler anderer, der vor Kurzem als Chef der Sûreté zurückgetreten war. Le Matin hatte ihn als Reporter für Kriminalfälle eingestellt. Goron sprach mit allen, die irgendwie mit der Angelegenheit zu tun hatten, auch mit Augustines Vater, der über die Untätigkeit der Polizei klagte. Warum, fragte er, hatten die Ermittler Grenier nicht mit Augustines Hund konfrontiert, der den Mörder bestimmt erkannt hätte? Und warum hatte der Leichenbeschauer – »ein Mann, der keine Ahnung hat« – dem toten Mädchen nicht aus der Nähe in die Augen gesehen? Jeder wisse doch, dass die Augen das letzte Bild festhielten, das ein Toter gesehen habe.
»Ich riet ihm zu mehr Besonnenheit«, berichtete Goron, »aber es nützte nichts.«
Nachdem Goron einige Tage lang ermittelt hatte, war er sich sicher, dass es keinerlei Indizien oder glaubhafte Zeugenaussagen gab, die Grenier mit dem Verbrechen in Verbindung bringen konnten. Dadurch brachte er die Bevölkerung vor Ort gegen sich auf. Sie beschuldigte ihn, von Grenier bestochen worden zu sein. Die Behörden hätten den Fall derart vermasselt und die Bevölkerung sei derart hysterisch, schrieb er, dass die Gegend zu »ständiger Lynchjustiz«
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