Der Wandermoerder
habe, was Marie dem Jungen aber verschwiegen habe. Die Leute verwiesen darauf, dass sie ihn sehr bereitwillig in Pflege gegeben und seine Briefe nie beantwortet habe. Da der Junge bald volljährig geworden wäre, glaubten manche, dass sie ihn von einem Vagabunden hatte ermorden lassen, um das Geld behalten zu können.
Die Polizei forschte daraufhin in Trévoux nach. Einige Gerüchte erwiesen sich als wahr: Marie war tatsächlich eine lockere Frau. Aber die Geschichte von der Erbschaft war stark übertrieben. Der Vater hatte der Familie nur einen bescheidenen Geldbetrag hinterlassen, den Marie fast gänzlich für einen Prozess gegen seinen Bruder ausgegeben hatte. Sie fristete ein kümmerliches Leben als Wäscherin und verdiente zwei Francs am Tag. Die Briefe ihres Sohnes hatte sie nicht beantwortet, weil sie nicht schreiben konnte, aber sie hatte sie wie einen Schatz gehütet. Als sie das Briefbündel der Polizei übergeben musste, flehte sie: »Bitte geben Sie mir die Briefe wieder zurück. Sie sind alles, was mir von ihm geblieben ist.«
Die überzeugendste Entlastung lieferten jedoch Zeugen, die ihre Reaktion auf Victors Tod gesehen hatten. Zunächst hatte Marie nur Gerüchte über die Ermordung eines Hirten gehört, ohne zu wissen, um wen es sich dabei handelte. Als sie Claudine Suchet, eine Zeitungsverkäuferin, fragte, ob sie jemanden kenne, der eine kranke Verwandte versorgen könne, erkundigte sich Claudine nach dem Namen des Dorfes, in dem Victor arbeitete, und nach dem Namen seiner Pflegefamilie. Sie hatte die Nachrichten über den Mord an einem noch unbekannten Hirten gelesen. »Ich muss wohl blass geworden sein«, erinnerte sie sich, »denn die arme Frau begann zu zittern und heftig zu schluchzen. Sie schien untröstlich zu sein.« Als die Polizei sie befragte, hatte sie sich noch nicht erholt. Von da an galt sie nicht mehr als verdächtig.
Wochen vergingen. Am 30. September schrieb der medizinische Leiter des Irrenhauses Saint-Robert den Behörden, dass einer seiner Insassen zwei Tage vor dem Mord geflohen sei. Dieser Patient namens Jean-François Bravais war wegen Depressionen und Verfolgungswahn behandelt worden, und die Beschreibung im Steckbrief passte gut auf ihn. Er hatte auch eine Narbe im Gesicht, weil er einmal selbst auf sich geschossen hatte. Die Polizei fahndete daraufhin nach Bravais, und fünf Wochen später nahm sie ihn fest, als er etwa 80 Kilometer südlich von Bénonces aus einem Zug stieg. Er leugnete jedoch alles, und ein sehr glaubwürdiger Zeuge bestätigte schließlich sein Alibi: ein Polizist.
Am 22. November 1895 wurden die Ermittlungen offiziell eingestellt, weil es keine Beweise und keine neuen Spuren gab. Die Bürger von Bénonces, Onglas und den umliegenden Gemeinden mussten weiterhin in Angst leben. In der Zwischenzeit streifte Vacher weiter durchs Land und griff Unschuldige, Schwache und Junge an.
Louis-Albert Fonfrède, der vergeblich versucht hatte, den Fall Augustine Mortureux zu lösen, las vom Mord an Victor Portalier und begann daraufhin, eine Akte anzulegen.
Zehn
Spuren gibt es immer
Eines der Objekte aus Lacassagnes Sammlung war das Skelett eines jungen Mannes, das in einem Schaukasten hing. Der Kopf war nach einer Begegnung mit der Guillotine wieder am Rumpf befestigt worden. Auf der Innenfläche des rechten Beckens stand in Großbuchstaben der Name Gaumet. Er erinnerte an ein brutales Verbrechen und daran, dass die Wissenschaft in der Lage gewesen war, es mithilfe winziger Spuren aufzuklären.
Annet Gaumet war ein hartgesottener Verbrecher, der im Alter von 24 Jahren schon vierzehnmal verurteilt worden war. Am 21. Dezember 1898 brachen er und mehrere Bandenmitglieder in die Wohnung der Witwe Foucherand über ihrem Bistro in der Rue de la Villette in Lyon ein. Sie würgten die Frau, erschlugen sie mit Knüppeln und stahlen ihr Geld. Die Polizei wusste, wie sie mit einem Tatort umzugehen hatte, und als Lacassagne am nächsten Morgen mit dem Staatsanwalt und dem Polizeikommissar eintraf, fand er die Szene unverändert vor. Die Frau lag auf dem Rücken – Beine gespreizt, Röcke nach oben gezogen, der rechte Arm schützend über der Brust liegend, der linke seitwärts gestreckt, Quetschungen am Hals und eine klaffende Wunde an der rechten Seite des Kopfes. Neben der Leiche lag eine blutige Weinflasche. Möbel waren umgeworfen und Schubladen geleert worden.
Die Ermittler gingen von Zimmer zu Zimmer und notierten sorgfältig die Positionen der Möbel, der
Weitere Kostenlose Bücher