Der Wandermoerder
Blutflecken und anderer Gegenstände. An diesem Tatort schien es jedoch ungewöhnlich wenig Spuren zu geben. Die blutige Flasche war möglicherweise als Waffe benutzt worden, aber man fand keine Fingerabdrücke darauf. Trotz des Chaos waren auch keine Fußabdrücke zu sehen. Es gab keine Kleidungsstücke, die nicht dem Opfer gehörten, und auch fremde Haare wurden nicht gefunden. Das Einzige, was Lacassagne ungewöhnlich fand, war ein Klumpen menschlicher Fäkalien auf dem Bett. Er wusste nicht, warum er sich dort befand und ob er für die Untersuchung nützlich war, ließ ihn aber dennoch zusammen mit der Leiche und der Flasche ins Institut bringen.
Mitte der 1890er-Jahre suchten Experten immer gründlicher nach Spuren an Tatorten und bemühten sich, die Kluft zwischen Wissenschaft und Gesetz zu überbrücken. In der Einführung zum achten Band seiner Zeitschrift forderte Lacassagne 1893 eine bessere Zusammenarbeit »von Gesetzeshütern und Wissenschaftlern«. Hans Gross, der berühmte österreichische Jurist und Juraprofessor, teilte diese Ansicht. In seinem Handbuch der Kriminalistik waren 180 Seiten wissenschaftlichen Experten gewidmet, unter anderem dem »Mikroskopisten«, dem »chemischen Analytiker«, den »Experten für Physik« und den »Experten für Mineralogie, Zoologie und Botanik«. Seiner Meinung nach waren Fachleute die wichtigsten Helfer eines Untersuchungsbeamten und entschieden auf die eine oder andere Weise immer über den Ausgang eines Verfahrens. 1895 verabschiedete die International Union of Criminal Law bei einer Konferenz in Linz eine Resolution, die spezielle Kurse für junge Juristen forderte, um ihr Wissen über wissenschaftliche Verfahren zu vertiefen.
Ein großer Pluspunkt der Wissenschaft ist es, dass sie bestimmte Muster entdeckt, wo keine erkennbar waren, und Dinge aufdeckt, die früher unsichtbar geblieben wären. Das galt auch für die aufblühende Forensik. Ermittler stellten fest, dass ein Verbrecher unweigerlich Spuren am Tatort zurückließ oder auch mitnahm, einerlei, wie vorsichtig er war. Jahre später wurde diese Regel nach Lacassagnes Schüler Edmond Locard als »Locard ’ sches Prinzip« bekannt. Polizei und Experten waren fasziniert davon, wie klein diese Spuren sein konnten. Einen Täter anhand von winzigen Objekten – einem Haar oder einigen Fasern – zu überführen kam der Zauberei nahe (und wurde in der Presse auch oft so genannt). Mediziner und Ermittler, die um die Bedeutung winziger Hinweise wussten, lernten daher, auch weniger offensichtliche Stellen zu untersuchen, etwa das Hutfutter, Ärmel- und Hosenaufschläge oder die Haut unter den Fingernägeln des Opfers und der Verdächtigen. Nichts war so trivial, dass es ihre Aufmerksamkeit nicht wert gewesen wäre, sei es ein Kleidungsstück, das zerkaute Ende eines Pfeifenstiels oder Papierschnitzel. Und sie nutzten Techniken, mit denen sie nahezu unsichtbare Spuren fanden.
Das wichtigste Werkzeug dabei war das Mikroskop. Obwohl es schon Jahrhunderte zuvor erfunden worden war, machte die Technik im 19. Jahrhundert enorme Fortschritte. Linsenhersteller nutzten das erweiterte Wissen über die Optik, um neue Linsen zu entwerfen und bessere Gläser zu produzieren. Ende des Jahrhunderts bauten Firmen wie Carl Zeiss in Deutschland Mikroskope, deren Auflösungsvermögen erst um 1960 von Elektronenmikroskopen übertroffen wurde. Gross beschrieb zahlreiche Ermittlungen, bei denen ein Mikroskopist Spuren entdeckt hatte, die der Polizei entgangen waren. In mehreren Fällen wiesen gesäuberte Mordwaffen doch noch winzige Blutspuren auf, die ein Mikroskopist entdeckte, als er die Nieten eines Messergriffs oder die Verbindungsstelle zwischen einem Axtgriff und der Schneide untersuchte.
Ebenso nützlich waren Mikroskope für die Untersuchung von Haaren, die an allen Tatorten zu finden waren, wenn man nur sorgfältig genug nach ihnen suchte. Sie hafteten an Kleidungsstücken, Schuhen, Waffen und Knochensplittern, und oft hatte ein Opfer Haare an den Fingern, die Hinweise auf den Täter gaben. »Das kommt öfter vor, als man glaubt. Würde man die Hände der Opfer noch genauer untersuchen, fände man sie noch häufiger«, schrieb Gross. Darum bestand er darauf, dass gewöhnliche Polizisten die Hände eines Opfers unberührt ließen, bis autorisierte Forensiker eintrafen. Diese Experten konnten mithilfe des Mikroskops zwischen Menschen- und Tierhaaren, aber auch zwischen Haaren und Pflanzenfasern wie Flachs, Maisgrannen und
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