Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
Vom Netzwerk:
Sache. Die meisten Menschen waren ziemlich arm und mussten hungern, wenn eine Ernte vertrocknete. Fleisch war Luxus und wurde nur wenige Male im Jahr gegessen. Bei reichen Bauern kam es immerhin einmal in der Woche auf den Tisch. (Der durchschnittliche Pariser aß fast viermal so viel Fleisch wie der durchschnittliche Dorfbewohner.) Grundnahrungsmittel waren grobes Brot oder Pfannkuchen und Suppe – eine Brühe oder ein Eintopf, in den alles geworfen wurde, was gerade vorhanden war. Suppen waren die Hauptmahlzeit des Tages und enthielten meist nur pflanzliche Nahrungsmittel. Mais, Buchweizen, Kastanien, Kohl, Steckrüben und Kartoffeln wurden in Salzwasser oder mit etwas Schweineschmalz gekocht. Dazu trank man Milch oder Wasser, da der Wein zu teuer war.
    Fast niemand auf dem Land hatte fließendes Wasser. Tuberkulose, Typhus und Cholera waren verbreitet, und die medizinische Versorgung war schlecht. Leben bedeutete arbeiten, fast wie bei den Bauernhoftieren.
    Viele Hirten lebten monatelang bei ihrer Herde, ohne Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Ein Wanderer in den Pyrenäen beschrieb 1888 eine Hirtenhütte: Es handelte sich um eine steinerne, einen Meter hohe Hütte, in deren Innerem sich der gesamte Besitz des jungen Mannes befand, ein Haufen Stroh als Schlaflager, ein kleiner Vorrat Kartoffeln und ein Sack mit einem halben Brotlaib, etwas Fett und ein wenig Salz. Jene, die bei den Bauernfamilien lebten, hatten es ein klein wenig besser. Sie konnten sich immerhin in der Scheune, in der Küche oder vor dem Ofen schlafen legen. Wie ihre umherziehenden Berufsgenossen verbrachten sie ihre Tage allein mit ihren Tieren und waren vielen Gefahren ausgesetzt, zum Beispiel Räubern, Wölfen und tollwütigen Hunden.
    »Eine so traurige Existenz führt der Hirte!«, schrieb ein Journalist des Petit ­Parisien . »Wir mögen sie romantisieren, aber in Wirklichkeit haben Hirten einen der anstrengendsten und am schlechtesten bezahlten Berufe … Hirten … müssen viel wissen, brauchen einen sanften Charakter und ein hoch entwickeltes Pflichtgefühl.«
    Obwohl das Leben eines Hirten hart war, war es immer noch besser als das, das Victor Portalier sonst geführt hätte. Er wurde in Trévous geboren, einer Stadt am Fluss gleich nördlich von Lyon. Seine Mutter hatte einen viel älteren Mann geheiratet, und Victor verlor seinen Vater im Alter von zwölf Jahren. Zu der Zeit begann er seine Karriere als Kleinkrimineller. Seine Mutter, angeblich eine moralisch minderwertige Frau, kümmerte sich kaum um den Jungen, daher brachte ihn der Ortspfarrer zum Kinderschutzbund nach Lyon. Dort wurde ihm Jacques Berger, ein Bauer in Onglas, rund 65 Kilometer entfernt, als Pflegevater zugewiesen. Die Maßnahme erwies sich als Erfolg. Im Alter von 15 Jahren hatte Victor Freunde unter den anderen Hirten und galt als freundlicher und fleißiger Junge.
    Am Nachmittag des 31. August 1895 machte er sich um halb zwei, eine halbe Stunde vor den anderen Jungen, mit seinen Kühen auf den Weg. Er brach gerne früh auf und führte seine Herde auf die »große Wiese« an einem Abhang, etwa anderthalb Kilometer vom Bauernhaus entfernt. Dort setzte er sich dann unter den großen Walnussbaum am Rand der Wiese und genoss den Blick auf die Wälder und Felsen im Luizettal. In der Ferne befanden sich eine Schlucht und ein über 90 Meter hoher, stufenförmiger Wasserfall. Im Sommer spielten die Jungen gerne am Wasserfall und tollten in dem klaren See herum, der sich darunter bildete. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag, und nichts rührte sich.
    Doch dann hörte er ein Geräusch …
    Die anderen Jungen stiegen gerade aus dem Tal nach oben, als eine von Victors Kühen ihnen entgegenkam. Jean-Marie Robin, ein Freund, trieb das Tier wieder den Berg hinauf zur großen Wiese. Komisch, dass Victor eine seiner Kühe weglaufen lässt. Etwa 70 Meter von dem Baum entfernt, unter dem Victor gewöhnlich wartete, entdeckte Jean-Marie eine Blutlache. Dann stieß er auf eine zweite … und fand ein blutiges Hemd. Da er Angst hatte weiterzugehen, rannte er schreiend davon. Mehrere Menschen eilten herbei, darunter auch der Feldhüter, der Victors Leiche schließlich fand und die Behörden verständigte. Am nächsten Morgen trafen Polizisten aus der Stadt Villebois ein, die etwa acht Kilometer entfernt lag. Begleitet wurden sie von zwei Ärzten, die sie als Gerichtsmediziner rekrutiert hatten. Da die Leiche für einen Transport zu stark verstümmelt war, nahmen diese die Autopsie

Weitere Kostenlose Bücher