Der Wandermoerder
Mortureux getan hatte – und bot sogar seine Hilfe an, als der Tote zum Büro des Bürgermeisters getragen wurde.
Die Polizei vermutete später, dass Vacher Gautiers Geld gestohlen und damit eine Fahrkarte für den Zug nach Lyon gekauft hatte. Zeugen im Zug erinnerten sich an einen Vagabunden mit einer Gesichtsnarbe, der schrecklich gerochen hatte.
Teil zwei Die Strafe
»Wenn wir nun fragen: ›Wie soll ein Ermittler arbeiten?‹, gibt es nur eine einzige Antwort: Er muss mit ganzem Herzen den Erfolg anstreben.«
Hans Gross, Handbuch der Kriminalistik , 1906
Vierzehn
Der Untersuchungsrichter
Am 17. April 1897 nahm in der Stadt Belley am Fuße der Alpen ein neuer Untersuchungsrichter namens Émile Fourquet seine Arbeit auf. Belley mit seinen rund 4000 Einwohnern war eine Marktstadt und die Hauptstadt der Region Bugey im Departement Ain. Es war ein ganz normaler malerischer Ort, ein Ausgangspunkt für einen ehrgeizigen jungen Richter, der Karriere machen wollte. Der fünfunddreißigjährige Fourquet hatte bereits einige unbedeutende Aufgaben als Richter innegehabt. Er war ein großer, magerer Mann mit kahlem Kopf, üppigem Schnurrbart und Brille. Das gespaltene Kinn ließ auf Hartnäckigkeit und Energie schließen. Seine Augen, von der Brille vergrößert, strahlten eine Mischung aus jugendlicher Neugier und professioneller Abgeklärtheit aus. Nach seiner Ernennung »platzte [er] vor Freude«, wie er in seinen Memoiren schrieb. »Untersuchungsrichter! Menschenjagden! Es war ein Lebenstraum, eine Chance, eine brennende Leidenschaft zu stillen.«
Zwei Monate später trank Fourquet gerade einen Morgenkaffee mit einigen Kollegen, als Staatsanwalt Jean Reverdet mit der Tageszeitung eintrat. »Schauen Sie mal, was für ein außergewöhnliches Verbrechen vorgestern in der Nähe von Lyon begangen wurde«, sagte er.
In einem Artikel mit der Überschrift »Mord an einem Hirten« berichtete Le Lyon Républicain , dass ein dreizehnjähriger Hirte in den Bergen, mehrere Kilometer westlich von Lyon, »schamlos ermordet und dann geschändet« worden sei. Pierre Laurent war am Abend des 18. Juni vom Obstmarkt in sein Dorf zurückgekehrt, als ein Mörder ihn überfallen hatte. Der Täter sei »unglaublich grausam« gewesen.
Zuerst schlitzte er dem Jungen mit einem Messer die Kehle auf, dann warf er sich auf ihn … und sägte den Hals auf … Der Hundesohn scheute sich nicht, seine bestialische Leidenschaft zu befriedigen; er besudelte die Leiche und verstümmelte sie anschließend … Das kleine Opfer starb unter den Hieben eines abstoßenden Wüstlings, der leider verschwand, ohne Hinweise auf sein Ziel zu hinterlassen …
Fourquet und die anderen wussten, dass der Mord nicht in ihrem Bezirk begangen worden war, sodass nicht sie ihn untersuchen mussten. Aber die Einzelheiten erinnerten Reverdet an einen ähnlichen Fall, der ihren eigenen Bezirk vor etwa zwei Jahren erschüttert hatte: der Mord an Victor Portalier. »Ihr Vorgänger fand den Mörder nie«, sagte er zu Fourquet. »Man glaubt, es sei ein Vagabund gewesen.« Er wies Fourquet an, sich die Akte bringen zu lassen.
In den folgenden Tagen vertiefte sich Fourquet in die Akte Portalier. Sofort fielen ihm die Ähnlichkeiten zwischen diesem Fall und dem neuen auf. Beide Male hatte jemand einen Hirtenjungen heimtückisch und skrupellos überfallen, mit einem tiefen Schnitt in die Kehle ermordet und die Leiche dann geschändet und verstümmelt. Beide Male hatten Nachbarn zuvor einen bedrohlich aussehenden Landstreicher bemerkt, der sofort nach der Tat verschwunden war. Fourquet stellte fest, dass die Polizei nicht die kleinsten Ergebnisse erzielt hatte – sie hatte den Mörder nicht einmal identifiziert, geschweige denn gefasst.
»Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass das Verbrechen in der ganzen Region Besorgnis hervorgerufen hat«, schrieb Le Lyon Républicain bald.
Jeden Abend machen alle sieben Brigaden dieser Gegend ihre Runde von einem Bauernhof zum anderen und fragen die Bewohner, ob ihnen etwas aufgefallen sei … Doch bisher hat es keine neuen Erkenntnisse gegeben, und kein einziger Vagabund wurde festgenommen … Trotz aller Aktivität sind die Ermittler heute nicht weiter als am Tag des Verbrechens.
Fourquet studierte die Akte Portalier weiter und prüfte jede Aussage sorgfältig. Er entdeckte einen zwei Jahre alten Brief von Louis-Albert Fonfrède, dem Untersuchungsrichter in Dijon, der versucht hatte, den Mordfall Mortureux aufzuklären. Er hatte
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