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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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vielen Landesteilen zu derart zahlreichen Verbrechen ein und desselben Täters als Zeugen ausgesagt. Der Fall weitete sich aber nicht nur wegen der großen Zahl der Morde und Tatorte so stark aus, sondern er wurde auch von zwei neuen Entwicklungen beflügelt: dem Telegrafennetz und den Zeitungen mit Massenauflage. Die telegrafisch übermittelten Sonderberichte von Sarraut und anderen Reportern erreichten Millionen Leser. Viele von ihnen sahen ein Foto des Verdächtigen, erinnerten sich dadurch an etwas und informierten die Zeitung darüber. Die Berichte inspirierten wiederum andere Leser, sich ebenfalls zu melden. Zur gleichen Zeit schickte Fourquet Dutzende von Telegrammen und Fragebögen in die Regionen, in denen Vacher gesehen worden war. Bald meldete sich eine enorme Zahl von Informanten, die in früheren Zeiten, als Nachrichten lediglich mündlich übermittelt worden waren, nie von dem Fall gehört hätten.
    Normalerweise wäre Vacher gemäß den französischen Gesetzen zur Vernehmung in alle Departements gebracht worden, in denen er eines Verbrechens verdächtigt wurde. Wegen der vielen Fälle war dies jedoch logistisch unmöglich. Darum häuften sich die Akten auf Fourquets Schreibtisch. Wochenlang sortierte er die Daten, arbeitete täglich von sieben Uhr morgens bis Mitternacht und trennte »wahre« von »vielleicht wahren« und »falschen« Angaben. So füllte er die Lücken im Lebenslauf und in der kriminellen Karriere des Verdächtigen. Als er seinen Brief im Juli an 250 Untersuchungsrichter geschickt hatte, hatte er nur sieben Antworten erhalten. Jetzt, im Herbst 1897, bekam er 88 Akten über ungelöste Morde im ganzen Land zugeschickt, die nach Ansicht der Behörden Vachers Handschrift trugen.
    Mitten im zunehmenden öffentlichen Aufruhr setzte Fourquet die Vernehmung Vachers in dessen Zelle fort. Vacher schilderte seine Verbrechen erschreckend normal, so als wäre ein Mord nicht schlimmer als die Apfelernte:
    Eines Abends traf ich auf der Straße ein junges Mädchen, etwa 18 bis 20 Jahre alt. Ich überfiel sie wie alle anderen und schnitt ihr die Kehle durch … Einige Tage später tötete ich eine junge Hirtin auf die gleiche Weise … Nach dem Mord befleckte [vergewaltigte] ich sie.
    Den Mord an Victor Portalier beschrieb er mit ähnlich irritierender Distanziertheit und fügte ein schauriges Detail hinzu: »Nachdem ich ihn getötet hatte … biss ich ihm die Hoden ab.«
    Diese letzte Einzelheit, auf der Vacher immer wieder beharrte, konnte allerdings nicht wahr sein. Denn Dr. Ravier Gaston, der die Autopsie vorgenommen hatte, wies Fourquet darauf hin, dass die Wundränder »sehr glatt« gewesen seien – als habe eine geschickt geführte scharfe Schneide die Hoden abgetrennt. Fourquet vermutete, dass Vacher diese Geschichte erfunden hatte, um die Behauptung zu stützen, er sei geisteskrank. »Die Krankheit will es so«, hatte Vacher ihm gesagt, als er sein plötzliches Verlangen erklärt hatte. »Vielleicht fühle ich mich von Kindern irgendwie angezogen.«
    In der Tat bemühte sich Vacher seit seinem ersten Geständnis darum nachzuweisen, dass er, rechtlich gesehen, nicht zurechnungsfähig war. In seinen Gesprächen mit Fourquet und der Presse versicherte er, dass er bisweilen in eine Art »Rausch« verfalle, der ihn dann überwältige. Diese Behauptung hielt er auch während eines Interviews mit dem Lyon Républicain aufrecht:
    »Warum ich getötet habe? Ich weiß es nicht; es überkam mich einfach. Ich hatte Anfälle; ich weiß nicht, warum. Das Gift wollte wohl heraus.«
    »Und die Verstümmelungen? Wie erklären Sie die?«
    »Ich weiß nicht, was nach den Morden passiert ist. Aber wenn ich weiterging, war ich erleichtert. Ich fühlte mich besser. Allerdings wäre es nicht passiert, wenn Gott es nicht gewollt hätte.«
    »Bedauern Sie Ihre Opfer?«
    »Nein, weil Gott es gewollt hat.«
    »Ihre Anfälle sind seltener geworden, seit Sie hier sind. Sie haben nicht mehr versucht, jemanden umzubringen.«
    »Ja, aber schauen Sie – ich habe auch mein letztes Opfer gehen lassen, ohne ihm ein Leid anzutun. Vielleicht ist die Krankheit ja am Abklingen.«
    Ende Oktober hatte Vacher zehn Morde gestanden, doch Fourquet war der Überzeugung, dass er immer noch etwas verschwieg. Als eine Zeitung in Lyon Zweifel an Vachers Geständnissen offenbarte und Fourquet Leichtgläubigkeit vorwarf, beschloss der Ermittler, dies zu seinem Vorteil zu nutzen.
    »Ich bin wütend auf diese Reporter « , rief er, als er Vacher

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