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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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Infolgedessen kam er zu dem Schluss, dass das Opfer 1,38 bis 1,42 Meter groß gewesen war.
    Zusammengefasst war der Junge vor mindestens vier Monaten ermordet worden, so wie Vacher es gestanden hatte. Er war zwölf bis 14 Jahre alt und nicht größer als 1,42 Meter gewesen. Demnach konnte es sich nicht um François Bully handeln, der 17 Jahre alt und mindestens 1,67 Meter groß gewesen war.
    In der Zwischenzeit hatte der Untersuchungsrichter Benoist einen Brief aus Belgien erhalten, der Boyers Befund unerwartet bestätigte:
    Bin sehr überrascht zu hören, Wacher [sic] habe mich ermordet, und möchte Ihnen hiermit mitteilen, dass es mir recht gut geht, obwohl ich keinen Penny besitze.
    François Bully
    Mehrere Tage vergingen, und immer noch wusste niemand, wer das Opfer war. Doch Ende Oktober meldete sich eine Frau und gab an, dass ihr vierzehnjähriger Sohn, der auf einem Bauernhof in der Nähe von Tassin-la-Demi-Lune gearbeitet hatte, seit Mai vermisst werde. Als sie ins Büro des Untersuchungsrichters in Lyon kam, erkannte sie die Kleider ihres Sohnes – vor allem einen Riss im Kragen, den die Großmutter des Jungen geflickt hatte. Später im Institut zeigte ihr Boyer den Kieferknochen und fragte sie, ob sie die Zähne erkenne. Sie bestätigte es schluchzend: Bestimmte Zähne fehlten, und zwei waren auffallend krumm. Vachers elftes Opfer war also ein vierzehnjähriger Junge namens Claudius Beaupied.

    Die Zeitungen berichteten nun, dass Vacher sein Verhalten geändert habe. Früher sei er gesprächig und einnehmend gewesen, nun sei er einsilbig und herablassend geworden. Er gebe Fourquet keine Antworten mehr und habe erklärt, er werde gar nichts mehr sagen, solange die Zeitungen nicht einen neuen Stapel Briefe abdruckten, die er geschrieben habe, um seine Unzurechnungsfähigkeit zu untermauern. Doch Fourquet ließ das nicht zu und versuchte einige Wochen lang erfolglos, Vacher in mindestens 15 weiteren Gesprächen umzustimmen.
    Er wusste, dass seine Rolle im Fall jetzt beendet war. Denn es war an der Zeit, aus einer juristischen Untersuchung eine medizinische und psychologische zu machen. Darum setzte er sich mit Dr. Alexandre Lacassagne in Verbindung.

Sechzehn
Professor Lacassagne
    Als Fourquet den Gelehrten ansprach, war dieser bereits in höchstem Maße berühmt und in seiner Glaubwürdigkeit anerkannt, was er während der nächsten 30 Jahre auch bleiben sollte. Seine Bücher waren forensische Klassiker, seine Zeitschrift galt als maßgebliche Quelle für alles, was mit der Kriminologie zu tun hatte, und seine Schüler arbeiteten überall in Europa.
    Lacassagne bemühte sich ständig um ein tieferes Verständnis der kriminellen Entwicklung eines Individuums. Ende der 1890er-Jahre begann er daher mit einem mehrjährigen Experiment: Er forderte notorische Straftäter auf, ihre Autobiografie zu schreiben. Er versorgte sie mit Notizbüchern und Federhaltern, beriet sie beim Formulieren ihrer Gedanken und besuchte sie jede Woche, um ihre Fortschritte zu überprüfen. Zur Belohnung gab er ihnen Tabak und Süßigkeiten und hörte ihnen mitfühlend zu. Für viele Häftlinge war er der einzige Mensch, der sich für sie und ihr Leben interessierte, daher betrachteten sie ihn bald als Freund und Beichtvater. »O teurer Wohltäter, Sie geben meinem Leben so viel Sinn!«, schrieb ein Mörder.
    Die Notizen der Häftlinge waren sehr aufschlussreich. Ein Anarchist namens Émile Gautier – ein Intellektueller mit juristischem Examen, der drei Jahre im Gefängnis saß – erstellte eine 42-seitige Abhandlung, die in den Archives de l’anthropologie criminelle abgedruckt wurde. Er beschrieb das Gefängnis als »Gewächshaus für Giftpflanzen«, in dem jeder, der nicht lebenslang einsitze, zum Verbrecher werde. Gautier war mit Lombrosos Theorie gut vertraut. Gestützt auf seine Beobachtungen bei anderen Gefangenen, äußerte er seine abweichende Meinung in Bezug auf »geborene Verbrecher« und ihre Merkmale:
    Ihre Kriecherei, ihre Zaghaftigkeit, ihr verschlagenes Aussehen, die Katzenhaftigkeit, die sie an sich haben, ihre Feigheit, ihre Demut und ihre Niedergeschlagenheit machen sie zu einer ganz eigenen Bevölkerungsschicht – man könnte auch sagen: zu Hunden, die ausgepeitscht werden. Es gibt nur wenige energische und brutale Rebellenführer.
    Aber ist das alles angeboren? Handelt es sich um eine Rasse oder um innere Degeneration? Oder haben wir es hier mit erworbenen Merkmalen zu tun?
    Stimmt es etwa nicht, dass

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