Der Wandermoerder
den Artikel zeigte. »Was für Schmierfinken! Sie müssen einen immer mit Schmutz bewerfen.«
Vacher las den Artikel. »Diese Bastarde«, murmelte er dann. »Hören Sie – ich habe eine Überraschung für die. Wir werden ja sehen, wer lügt.« Dann berichtete er Fourquet von einem Mord, den er begangen hatte und von dem niemand etwas wissen konnte.
Im Mai hatte er eine Weile in einem verlassenen Haus in einer Vorstadt gleich westlich von Lyon gewohnt. Als irgendwann ein Junge vorbeikam, der wie ein Landstreicher gekleidet war, hatte er ihn getötet und die Leiche in einen unbenutzten Brunnen geworfen. Der Brunnen befinde sich in einem verlassenen Garten hinter dem Haus, sagte Vacher. Niemand werde die Leiche je finden. Dann beschrieb er ungefähr die Lage des Grundstücks.
Die Nachricht von diesem Geständnis versetzte die Bürger von Lyon in Aufruhr. Polizisten und Amateurdetektive durchzogen das Land und schauten in jeden verlassenen Brunnen, den sie fanden. Mehrere Zeitungen schickten eigene Suchtrupps los und hofften auf die Schlagzeile des Jahres.
Zwei Tage lang suchten die Leute erfolglos. Doch dann, am 24. September, einem Sonntag, schickte der Chef der Gendarmerie in Tassin-la-Demi-Lune, einem unscheinbaren Dorf acht Kilometer westlich von Lyon, einen Beamten an einen Ort, an den er sich vage erinnerte und der dem Platz ähnlich war, den Vacher beschrieben hatte. Als der Polizist sich dem Gelände näherte, passten alle Einzelheiten: Er sah ein leeres Haus gegenüber einer alten Fabrik, das schräg zur Straße stand. Im Garten befand sich ein Brunnen neben einem Kirschbaum und einer Holunderhecke. Als er sich in den Brunnen beugte, ließ ihn der Gestank zurückschrecken. Dann borgte er sich mit ein paar anderen Männern von einem Nachbarn einen Enterhaken und ließ diesen in den Brunnen hinab. Als sie ihn wieder hinaufzogen, hingen Leichenteile daran.
»Wann wird dieser schreckliche Albtraum enden?«, schrieb Albert Sarraut.
Am nächsten Tag traf Alphonse Benoist, der Untersuchungsrichter von Lyon, beim Brunnen ein, zusammen mit Dr. Boyer vom Institut für Gerichtsmedizin sowie mehreren Feuerwehrleuten und Polizisten. Unter den Augen zahlreicher Zuschauer pumpte die Feuerwehr das Wasser aus dem Brunnen und goss Phenol hinein, um ihn zu desinfizieren. Dann ließen sie eine Kerze hinab und prüften, ob der Brunnen genügend Sauerstoff enthielt. Nun kletterte ein Feuerwehrmann an einem Seil mit Knoten auf den Grund und begann, die Überreste einzusammeln und in eine Holzkiste zu legen, die neben ihm hinabgesenkt worden war. Als der Gestank unerträglich wurde, stieg der erste Mann wieder hinauf, und ein zweiter ging hinunter. Sie arbeiteten, bis die Nacht einbrach, und machten am nächsten Tag weiter. Ein Schienbein kam zum Vorschein, dann ein Hüftknochen, schließlich einige Wirbel. Immer wieder senkte sich die leere Kiste hinab und kehrte mit einer Ladung zurück. Ein Haufen blutiger Kleidung wurde im Haus gefunden.
Während die Leute sich um den Tatort drängten, trat eine Frau namens Madame Larraboire vor und erklärte, ihrer Meinung nach gehörten die Kleider François Bully, der früher in ihrem Garten gearbeitet habe. Der siebzehnjährige Bully hatte seine Familie verlassen, um Vagabund zu werden, weil er sich ständig mit seinen Eltern gestritten habe. Er war etwa ein Jahr lang herumgewandert, aber Ende Mai verschwunden.
Im Institut isolierte, sortierte und identifizierte Dr. Boyer die Körperteile, um herauszufinden, wann das Opfer ermordet worden war und um wen es sich handelte. Er prüfte das Stadium der Verwesung und schätzte dann, dass die Tat sich mindestens vier Monate vor dem Auffinden der Leiche ereignet hatte.
Die Identifizierung des Opfers war schwieriger, da ihm nur einzelne Körperteile zur Verfügung standen. Getreu den Anweisungen in Lacassagnes Vademecum untersuchte Boyer die Wachstumsfugen, die wenige Zentimeter von den Enden der langen Knochen entfernt waren. Sie waren noch nicht vollständig verknöchert, ebenso wenig die Bruchstücke des Hüftbeines, das etwa im Alter von 17 Jahren hart wurde. Außerdem bemerkte er, dass die beiden Kiefer einen Winkel zueinander bildeten, wie er typisch für Jugendliche war. Das alles deutete darauf hin, dass das Opfer nicht älter als 14 gewesen war. Und die Zähne ließen darauf schließen, dass es mindestens zwölf gewesen war.
Um die Größe des Opfers zu berechnen, verglich Boyer die wichtigsten Knochen mit Rollets Tabellen.
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