Der Wandermoerder
Charakterzüge, die wir häufig nachahmen, dauerhaft werden, sogar somatisch ?
Im Laufe der Jahre sammelte Lacassagne 62 autobiografische Notizbücher von über 50 Insassen des Gefängnisses Saint-Paul. Jeder Bericht zeigte ihm, wie Kriminalität sich entwickelte. Er las düstere Geschichten über häusliche Gewalt, Krankheit, Vernachlässigung in der Kindheit und den Tod geliebter Angehöriger. Eines der umfangreichsten und ergiebigsten Werke stammte von Émile Nouguier, dem Bandenführer, der zusammen mit Annet Gaumet Madame Foucherand ermordet hatte, die ein Café in der Rue de la Villette besessen hatte. Während er im Gefängnis jahrelang auf seinen Prozess und seine Hinrichtung wartete, füllte er sechs Notizbücher, denen er den Titel »Erinnerungen eines Spatzen oder die Geständnisse eines Gefangenen« gab. Darin schilderte er ein Leben, das fast zwangsläufig mit Mord und Guillotine enden musste. Schon als Kind lief Émile, dessen krimineller Vater ihn misshandelte, von zu Hause weg, und als er zurückkam, musste er feststellen, dass seine Schwester vom Vater missbraucht wurde. Im Alter von zwölf Jahren verließ er dann seine Familie endgültig und verdiente sein Geld als Landarbeiter, Zirkusarbeiter, Zuhälter und Dieb. Er liebäugelte mit dem Anarchismus, war mindestens zweimal im Gefängnis, versöhnte sich nach seiner Entlassung kurz mit seinem Vater und wurde dann Anführer einer Bande in Lyon. Zusammen mit seiner Gang brach er in Foucherands Wohnung ein und tötete die Frau. Das einzige liebevolle Vorkommnis in seinem ganzen Leben war offenbar seine Geburt gewesen, die er mit dem Schlüpfen eines Sperlings verglich. Erfreut über Lacassagnes Zuwendung, versuchte er, ihm bei seinen Forschungen zu helfen, und stellte ein Wörterbuch der Gaunersprache zusammen.
Henri Vidal, der an der Riviera vier Frauen erstochen hatte, schrieb für Lacassagne ein 227 Seiten starkes Manuskript, das durch Selbstanalysen und Nachdenklichkeit überraschte. »Was mich in meiner Situation am meisten erstaunt«, begann er entwaffnend, »ist … dass ich Blut immer verabscheut habe.« Die einzelnen Kapitel spiegelten seine emotionale Entwicklung wider: »Der Ursprung des Frauenhasses«, »Meine Reue«, »Sturz vom Fahrrad« und »Das Temperament meiner Mutter«. Vidal nutzte seine Schriften, um den Befund der Experten zu widerlegen, wonach er zurechnungs- und prozessfähig sei. »Wenn ich mir Ihre Diskussionen anhöre, meine Herren, wird mir klar, dass Sie meinen Fall nicht verstanden haben. Sie verstehen ihn nicht, weil Sie mich zu schnell beurteilen«, schrieb er. »Sie achten nicht ausreichend auf viele Details, die Sie vielleicht für wichtig halten, die aber genau die Details sind, die meinen Fall so sehr von jenen unterscheiden, die Ihnen bisher begegnet sind.«
Charles Double, ein Homosexueller, der für seine Lasterhaftigkeit berüchtigt war, hatte seine verwitwete Mutter während eines Streits um Geld getötet und nach dem Urteil weder Reue noch eine andere Gefühlsreaktion gezeigt. Die Öffentlichkeit verabscheute ihn wegen dieser Kaltherzigkeit. Erst in seinen Notizen ließ er die kühle Maske fallen und offenbarte seine gequälte Seele, den Schmerz und die Selbstverachtung, unter der ein Homosexueller um die Jahrhundertwende leiden musste:
Mir scheinen die Worte weibisches Ungeheuer die Wahrheit zu treffen. Ein Homosexueller ist eine Art Monster, ein Ausgestoßener, nur teilweise Mensch, einer, der mit dem Rest der Welt nicht im Gleichschritt lebt, ein Studienobjekt und Gegenstand der Verwunderung für die Wissenschaft. Die Gesellschaft lehnt solche Wesen ab und verurteilt sie, hört aber nicht damit auf, sie zu untersuchen.
Ich kam in dieses Leben mit einer Seele voller Schrecken … Ich hatte immer die geheime Ahnung, dass sich in meinem Leben eine große Katastrophe ereignen würde … dass meine stolze und sinnliche Seele erschüttert und gedemütigt werden musste. Wesen wie ich kennen keinen mittleren Weg und keine halben Sachen. Gefangen zwischen Engel und Dämon, kriechen wir in den Spuren schändlicher und krimineller Freuden … Dies ist das Schicksal der armen, kranken Kreaturen, wie ich eine bin.
Am Abend bevor er sich näher mit dem Mordfall Vacher beschäftigte, war Lacassagne zwischen widerstreitenden Gefühlen hin und her gerissen. Als einer der berühmtesten Deuter forensischer Indizien und Erforscher der kriminellen Psyche betrachtete er Gesetzesbrecher nicht als biologisch »anders«,
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