Der Wandermoerder
Rechtsmedizin. Als die jungen Wissenschaften der Neurologie und Psychologie Fortschritte machten, entdeckten die Wissenschaftler, dass eine große Zahl von Kriminellen gar nicht ins Gefängnis gehörte, sondern in eine Nervenheilanstalt. Aber in den wenig strengen, unsicheren französischen Irrenhäusern bedeutete das Etikett »unzurechnungsfähig« oftmals die frühzeitige Entlassung. Das machte die Hürden für Vacher höher. Er war der erste Serienmörder, der behauptete, für seine Taten rechtlich nicht verantwortlich zu sein.
Jahrhundertelang hatte, was Verbrechen und Strafe anbelangte, eine einfache Regel gegolten: Verbrechen waren Sünden, und wer sündigte, wurde bestraft. Und wer offensichtlich zwanghaft handelte – sozusagen gegen seinen Willen oder wider besseres Wissen –, galt als verhext oder vom Teufel besessen. Wer aber zu schwach war, um sich dem Bösen zu widersetzen, war einfach selbst schuld.
Mit der Geburt der Psychologie im 19. Jahrhundert änderte sich diese Einstellung allmählich. Den neuen medizinischen Theorien zufolge rief nicht Satan den bösen Drang hervor, sondern eine Geisteskrankheit. Britische Gerichte erkannten diese Überzeugung 1824 in einem bahnbrechenden Fall an. Ein Mann namens Arnold hatte einen Lord Onslow angeschossen. Arnold war eindeutig verrückt, und zwar so deutlich, dass sogar Onslow selbst den Richter bat, kein Todesurteil zu verhängen. Das Gericht verurteilte daraufhin Arnold zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe mit der Begründung, dass er seine Taten nicht besser verstehe als »ein Kleinkind oder ein wildes Tier«.
Dieses Urteil wurde dann in vielen anderen Ländern zum Vorbild. In den meisten Fällen war das nicht weiter schwierig, weil die Richter und Geschworenen sofort erkennen konnten, dass bestimmte Angeklagte geisteskrank waren. Manchmal war der Geisteszustand eines Täters allerdings nicht so einfach zu beurteilen.
Im Jahr 1843 erschoss Daniel McNaghten, ein schottischer Holzfäller, Edward Drummond, den Sekretär des ehemaligen britischen Premierministers Sir Robert Peel. McNaghten war von der Idee besessen, Peel habe sich gegen ihn verschworen, und tötete Drummond, weil er ihn mit Peel verwechselte. Dem ersten Anschein nach war McNaghten ein normaler Mann, doch Nervenärzte bescheinigten ihm wahnhafte Störungen, sodass er in die Heilanstalt Bethlem kam. 13 Die Königin und der Premierminister erhoben Einspruch, woraufhin der Fall in die Berufung ging, die damals große Aufmerksamkeit erregte. Diese Kontroverse war der Ursprung des Rechtsgrundsatzes, wonach ein Angeklagter für unschuldig zu erklären war, wenn er aufgrund einer geistigen Störung außerstande war, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Das französische Recht folgte diesem Beispiel. Vor der Französischen Revolution hatte es für die Justiz keine Unzurechnungsfähigkeit gegeben, und Verbrecher wurden unabhängig von ihrem Geisteszustand bestraft. Doch im Jahr 1810 beschloss die nachrevolutionäre Regierung ein Gesetz über die Rechte und Pflichten der Staatsbürger. In Artikel 64 dieses Gesetzes stand, dass eine Handlung nicht als Verbrechen galt, wenn der Täter verrückt war. Wie in England war es auch in Frankreich einfach, diese Vorschrift bei offensichtlicher Geisteskrankheit anzuwenden. Oft genügte es bereits, wenn Nachbarn und Angehörige sie bezeugten. Als die Definition für Unzurechnungsfähigkeit sich jedoch änderte und aus »totaler Verrücktheit« der »Verlust der Vernunft« wurde, erwies sich die Auslegung dieser Vorgabe als problematisch. Erschwerend kam hinzu, dass es in Frankreich anders als in England keine Spezialkliniken für geisteskranke Täter gab. Wer wegen »eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit« als nicht schuldfähig galt, wurde in eine normale Nervenheilanstalt geschickt – allerdings in einen Hochsicherheitstrakt –, wo seine Entlassung dann vom Gutachten des Direktors abhing. Ein Mörder konnte daher schon nach wenigen Monaten wieder frei sein, wenn der Anstaltsleiter ihm attestierte, dass er geheilt war. Auch Vacher war ja nach seinem Angriff auf Louise weniger als ein Jahr in der Anstalt gewesen. Unglücklicherweise entwickelte sich die Rechtsprechung im Laufe der Zeit auch nicht annähernd so nuanciert weiter wie die Psychologie.
Die immer größer werdende Kluft zwischen der medizinischen Wissenschaft und der Justiz führte bisweilen zu völlig unverständlichen Urteilen. Im Jahr 1885 tötete beispielsweise ein betrunkener italienischer
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