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Der Wandermoerder

Der Wandermoerder

Titel: Der Wandermoerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Starr
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sondern als komplexe menschliche Wesen, die von ihrer Umgebung beeinflusst waren. Er verachtete sie auch nicht und glaubte an die Resozialisierung von ehemaligen Häftlingen: »Wir müssen sie unterstützen, anleiten und beraten und ihnen sogar helfen, die Erinnerung an ihre Strafe zu tilgen.« Doch als Hüter der sozialen Ordnung war es ihm wichtig, dass Verbrecher bestraft wurden, vor allem jene, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gemordet hatten. »Die Gesellschaft hat das Recht, sich zu verteidigen«, schrieb er. »Es wird noch lange dauern, bis wir die Guillotine in ein Lager mit Antiquitäten stellen können.« Er war fest davon überzeugt, dass eine Gesellschaft, die sich nicht selbst schützt, von Verbrechern zerstört wird, so wie ein Mensch, der die Hygiene vernachlässigt, Krankheiten zum Opfer fällt. Mitleid dürfe Werte wie Ordnung, Selbstdisziplin und soziale Verantwortung nicht verdrängen. »Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen«, lautete ein berühmter Ausspruch von Lacassagne.

Siebzehn
»Ein Verbrechen ohne Motiv?«
    Das Saint-Paul-Gefängnis stand am Südrand von Lyon ganz in der Nähe eines der beiden Bahnhöfe und nur wenige Straßen vom mondänsten Einkaufsbezirk entfernt. Es war noch nicht ganz 25 Jahre alt, als Vacher dort eintraf, und wirkte dennoch wie ein altes Gemäuer. Die hohen Mauern und Türme aus schweren braunen Steinblöcken verliehen ihm ein bedrückendes Aussehen. Mit seinem Eingang, zwei massiven Holztüren in einem steinernen Turm, glich es einer Burg aus einem Volksmärchen, die die Besucher nicht nur einließ, sondern verschlang.
    So düster die Anstalt auch wirken mochte, für damalige Verhältnisse war sie modern. Die Bauweise des Gebäudes – eine kreisförmige Anordnung – entsprach den neuesten Vorstellungen bezüglich des Gefängnisbaus. Die sechs dreistöckigen Zellblöcke, die von einem Mittelbereich abgingen, erinnerten an die Arme eines Seesterns. Wachen, die in der Mitte postiert waren, hatten einen Blick auf alle Blöcke. Zwischen den Zellblöcken lagen keilförmige Exerzierplätze, die camemberts hießen, weil ihre Form an Käseecken erinnerte. Das Ungewöhnlichste an dem Komplex war eine Kapelle mit speziellen Sitzbänken. Ähnlich wie bei einer Kabine gab es für jeden Platz an drei Seiten geschlossene Trennwände und vorne eine Wand mit einer Öffnung in Schulterhöhe. Dadurch war das Sehfeld jedes Häftlings so eingeschränkt, dass er nur nach vorne zum Priester oder nach oben zu Gott schauen konnte.
    Vacher wurde Ende Dezember 1897 eingeliefert und im Hochsicherheitstrakt untergebracht. Lacassagne hatte ihn zuvor schon mit zwei Kollegen in Belley besucht: mit Dr. Fleury Rebatel, dem Leiter einer Nervenheilanstalt, und Dr. Auguste Pierret, einem klinischen Professor für Geisteskrankheiten an der Universität Lyon und Chefarzt der Nervenheilanstalt in Bron. Vacher hatte sie wie Retter begrüßt. Endlich durfte er mit Leuten reden, die ihn verstanden .
    Während ihres Besuchs hatte Vacher stundenlang seine Lebensgeschichte erzählt und zu erklären versucht, warum er unzurechnungsfähig sei. Als die Ärzte nach dem Mittagessen zurückkamen, hatte er sich und seine Zelle geschmückt, als wolle er seine Geisteskrankheit auch visuell darstellen. Er hatte ein Erinnerungsmedaillon aus Lourdes an seinem Hemd befestigt und mit einem Stück Kreide auf einen Schuh ein Kreuz und auf den anderen ein Herz gezeichnet. Die Wände der Zelle hatte er mit Zeitungsbildern verziert, die ihn zeigten. Unter eines dieser Bilder hatte er eine Abbildung einer alten Uhr geklebt und mit der Hand »Es ist Zeit« daraufgeschrieben.
    Da die Ärzte überzeugt waren, dass sie Vacher einige Wochen oder gar Monate beobachten mussten, verlangten sie seine Überführung in das Gefängnis in Lyon. Zwei Wochen später weckten die Wärter Vacher um fünf Uhr morgens und befahlen ihm, sich fertig zu machen. Er schien nicht sonderlich überrascht, unterschrieb ohne Murren die nötigen Papiere und warf sich dann plötzlich auf den Boden. Zwei Wärter fesselten ihn daraufhin und trugen ihn in eine Pferdekutsche und später in einen Zug. Auf dem Bahnhof schrie Vacher dann: »Die Regierung will meinen Kopf, und sie soll ihn haben!« Beim Umsteigen schlug er um sich und kreischte: »Macht Platz für Vacher, den Ripper! Sie wollen meinen Kopf!«
    Die Frage, ob Vacher zurechnungsfähig war, spielte in seinem Fall eine entscheidende Rolle und traf einen empfindlichen Nerv der

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