Der Wandermoerder
Einwanderer in Paris einen Mann und verletzte mehrere andere. Als die Ärzte sich mit ihm befassten, stellten sie fest, dass er früher für den Pont d’Austerlitz Brückenmasten gesetzt und dabei mehrere Wochen in einer unterirdischen Druckluftkammer verbracht hatte. Daraus schlossen sie, dass der hohe Luftdruck sein Gehirn so angegriffen habe, dass man ihn für seine Trunkenheitstat nicht verantwortlich machen könne. Das Gericht verurteilte ihn daher zu fünf Jahren Zwangsarbeit.
Weniger milde fielen die Gutachten von Experten aus, wenn ein Fall großes öffentliches Aufsehen erregte. Wie bereits erwähnt, war ganz Frankreich von Louis Menesclou entsetzt, der ein vierjähriges Kind vergewaltigt, getötet und zerstückelt hatte. Der Mann war zwar eindeutig geisteskrank, dennoch wurde er für schuldfähig erklärt und hingerichtet. Als Experten danach sein Gehirn untersuchten, entdeckten sie zahlreiche Defekte und mussten voller Bedauern einräumen, dass er wahrscheinlich tatsächlich geisteskrank gewesen war.
Ein ähnliches Zugeständnis an die öffentliche Empörung wurde in den USA nach der Ermordung von Präsident James A. Garfield gemacht. Der Attentäter Charles J. Guiteau behauptete, dass er den Präsidenten auf Befehl Gottes erschossen habe. Guiteau, der für sein unberechenbares Verhalten bekannt war, tobte während des Prozesses und hatte bisweilen sogar Schaum vor dem Mund. Doch der medizinische Gutachter der Staatsanwaltschaft, Dr. John Gray, der Leiter der staatlichen Nervenheilanstalt in Utica, New York, erklärte, dass Guiteau allein aus verletztem Stolz und aus Enttäuschung gehandelt habe, weil er nicht zum Botschafter in Frankreich ernannt worden war, was er seiner Meinung nach verdient gehabt hätte. Guiteau wurde daraufhin für schuldfähig befunden und gehängt. Wie bei Menesclou fanden die Ärzte, die ihn obduzierten, Anzeichen für Hirnschäden, die in diesem Fall auf Geisteskrankheit durch Syphilis hindeuteten. 14
Es war offensichtlich notwendig, die medizinische und juristische Definition der Unzurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Aber die Gelehrten konnten sich nicht einigen. Im Jahr 1890 fasste der Jurist Louis Proal das Dilemma in den Annales médico-psychologiques zusammen:
Die öffentliche Sicherheit ist bedroht, wenn wir einen Verdächtigen fälschlich für krank erklären, der schuldfähig ist und Strafe verdient. Aber können wir uns einen schlimmeren Fehler vorstellen, als einen Kranken zu verurteilen, der unser Mitleid verdient? Welche Beweise können uns die Gewissheit verschaffen, dass wir nur Schuldige verurteilen und nur Kranke freisprechen?
Ja, in der Tat, welche Beweise? War die Tatsache, dass ein Mord ohne erkennbaren Hintergrund begangen worden war, also im Gegensatz zu einem Mord mit Motiv, wie zum Beispiel bei Ehebruch, Raub oder Streit um Geld oder die Ehre, ein ausreichender Beleg für Geisteskrankheit? Ein Rechtsanwalt vertrat Anfang des Jahrhunderts diese Auffassung vor Gericht. Der Angeklagte hatte zwei Kinder ermordet, denen er zufällig in einem Park begegnet war. »Ein Verbrechen ohne Motiv? Meine Herren Geschworenen, sind Sie nicht erstaunt über das, was diese Worte – Verbrechen ohne Motiv – bedeuten? Und was für ein Verbrechen! Ein Mord an zwei Kindern! Wer würde unter diesen Umständen nicht sofort sagen: Dieser Mann ist verrückt?«
Das mochte vielleicht ein einleuchtendes philosophisches Argument sein, aber es überzeugte Richter und Geschworene in keinem Fall. Die Justiz verlangte vielmehr ein spezifischeres Vorgehen: Experten sollten daher darin ausgebildet werden, einzelne Täter zu beurteilen. Nach und nach traten nun bei aufsehenerregenden Mordfällen in Frankreich Scharen von medizinischen Experten auf, die den Angeklagten genau unter die Lupe nahmen und dann ihre Meinung äußerten, der sich Richter und Geschworene allerdings nicht anschließen mussten. Doch selbst innerhalb dieses etablierten Systems waren viele der Auffassung, dass der Geisteszustand eines Verbrechers das Urteil nicht beeinflussen sollte – ein Verbrechen war ein Verbrechen, einerlei, wer es begangen hatte.
»Wenn mich eine Schlange oder ein tollwütiger Hund beißt, interessiert es mich nicht, ob das Tier für seine Missetat verantwortlich ist oder nicht«, gab Dr. Gustave Le Bron zu bedenken. »Ich versuche mich dadurch zu schützen, dass ich es daran hindere, mir oder anderen noch mehr zu schaden. Das ist meine einzige
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