Der Wandermoerder
den Zeitungen gelesen habe, was die Leute über ihn erzählten. Dann verdüsterte sich seine Stimmung plötzlich. »Das sind Idioten«, blaffte er. »Sie versuchen, mir 200 Morde anzuhängen. Aber ich habe genug davon.« Dann wurde er wieder umgänglich.
Die Wärter und die anderen Insassen merkten bald, wie wankelmütig der Neue war. Er konnte fröhlich und herzlich sein und den ganzen Tag singen, um dann auf einmal gemein und brutal zu werden. Er behandelte seine Wärter wie Diener und die anderen Insassen wie Untergebene. »Sie haben kein Recht, mich hier einzusperren … mit diesen Verbrechern!«, schrieb er an den Oberstaatsanwalt von Lyon. »Ich glaube, Sie sind wirklich imstande, einen Unschuldigen sterben zu lassen.« Er forderte, in eine Einzelzelle verlegt zu werden.
Vacher bekam tatsächlich seine eigene Zelle, in der er dann fast den ganzen Tag lang zufrieden vor sich hinsummte. Doch seine neu gefundene Ruhe dauerte nicht lange. »Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, pflegte er verdrießlich, hinterlistig und brutal zu werden«, schrieb ein Gefängniswärter.
In solchen Momenten brach Vacher aus wie ein Vulkan. Als er sich an einem Sonntag im März auf den Besuch der Messe vorbereitete, stieß er plötzlich die Wärter beiseite, trat die schwere Holztür seiner Zelle ein und kroch hinaus in den Flur. Als er zur Kapelle rannte, erwischte ihn ein Wärter. Daraufhin wurde er wieder in seine Zelle zurückgebracht und in eine Zwangsjacke gesteckt. In der Nacht zerriss er die Zwangsjacke. Daher brachten ihn die Wärter am nächsten Tag in eine spezielle Isolationszelle, in der statt eines Bettes eine Pritsche stand. Dann legten sie ihm Hand- und Fußfesseln an. Er schrie, dass er Selbstmord begehen werde, und begann, den Kopf gegen die Wand zu schlagen. Die Wärter bemerkten jedoch, dass er dabei darauf achtete, die Wand zuerst mit der Schulter zu treffen, um sich keinen echten Schaden zuzufügen.
Danach trat er in Hungerstreik und verkündete, er werde erst dann wieder etwas essen, wenn die Behörden seine Unschuld anerkannt hätten. Sechs Tage lang »verweigerte er energisch jede Nahrung«, schrieb der Gefängnisdirektor an Lacassagne. »Bevor ich ihn zum Essen zwinge, möchte ich Sie über die Situation unterrichten, um meiner Verantwortung ledig zu sein.« Lacassagne besuchte daraufhin den Gefangenen. Vacher begrüßte ihn herzlich, streckte ihm die Hand entgegen und drückte die Hand des Professors so stark, dass es wehtat. Damit wollte er zeigen, dass er trotz seiner Entbehrungen dank Gottes Hilfe stark wie ein »Kraftmensch auf dem Jahrmarkt« war. Ein aufmerksamer Wärter entdeckte später jedoch einen weitaus profaneren Grund für Vachers Stärke: Andere Insassen hatten ihm heimlich Essen zugesteckt. Lacassagne fand das nicht besonders amüsant.
Während all der Zeit schrieb Vacher auch fleißig. Er produzierte eine Menge Texte und kopierte all seine Briefe. Er wendete sich an fast alle, denen er auf seiner Wanderschaft begegnet war. Unter den Empfängern waren Louise Barant, seine Eltern, Kameraden seines ehemaligen Regiments, Leute in den beiden Anstalten, die ihn aufgenommen hatten, Fourquet und er selbst. Außerdem verfasste er ein zweiseitiges Gedicht über die Freuden des Vagabundenlebens:
Oh! Liebliche Einsamkeit!
Element guter Geister,
So viele Dinge hast du mich gelehrt,
Und das ohne Schule.
Mein Gott! Meine Augen sind so glücklich,
Dass sie von unseren Berggipfeln aus
So weite Ebenen sehen dürfen,
So schöne Häuser! …
Von hier aus höre ich 1000 Geräusche,
Jagdhörner, Hirschkühe und Schafe;
Oft ertappe ich mich selbst
Mitten in solchen Träumereien.
Alte zerstörte Burgen,
alte verfallende Städte,
Die in den rebellischen Jahren
Opfer der Impertinenz wurden!
Er schrieb auch an Madame Plantier, deren missglückter Überfall das Ende seiner Mordserie herbeigeführt hatte: »Es ist mir eine Ehre, Sie zu grüßen … Ich wünsche, dass Gott Ihnen für Ihre Verdienste um die Gerechtigkeit alles zurückgibt, was er Ihnen für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft schuldet.« Doch er warnte sie gleichzeitig auch vor zu viel Hochmut. »Sie können sich zu meiner Festnahme beglückwünschen; aber vergessen Sie nicht die Rolle der göttlichen Vorsehung.«
Da Lacassagne sich für die Autobiografien von Kriminellen interessierte, gab er auch Vacher ein Notizbuch, das der Gefangene im Laufe der Monate mit seinem Gekritzel füllte. Zum Schluss gab er dem Ganzen
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