Der Weg der Helden
die Wahrheit gesagt?«, erkundigte sich Ro mit trügerisch sanfter Stimme.
» Das habe ich nicht getan, nein. Ich habe ihnen nur erzählt, dass Ihr gegen die Krals gekämpft und eine Verletzung davongetragen habt, dass es Euch ansonsten aber gut geht. Es kann nicht schaden, wenn die Vagaren sehen, wie rasch sich die Avatar wieder erholen können.«
» Aber Euer Vertrauter Mondstein hat gesehen, wie Ihr mich niedergeschlagen habt?«
» Nein. Mondstein ist von einem Kral schwer verletzt worden. Die Bestie hat ihm sechs Rippen gebrochen und einen Lungenflügel durchbohrt. Er war nur halb bei Bewusstsein, als ich Euch zum Boot geschleppt habe. Ich kann Euch versichern, Questor, dass niemand beobachtet hat, wie ich Euch niedergeschlagen habe.«
» Nun, letztlich ist es ohnehin nicht von Bedeutung, Talaban«, erwiderte Ro und zwang sich zu einem Lächeln.
» Dem muss ich widersprechen, Questor. Wir sind eine Minderheit, und wenn die Vagaren oder andere Stämme Zeuge werden, dass wir untereinander uneins sind, würde das den Eindruck von Schwäche hinterlassen. Ich bedaure meine Handlung zutiefst, aber da die Alternative Euer Tod gewesen wäre, hatte ich keine andere Wahl. Positiv dagegen schlägt zu Buche, dass die Vagaren Zeugen geworden sind, wie Ihr und ich die Krals bekämpft haben. Sie werden diese Geschichte in ihre Städte tragen und dadurch den Mythos von der Überlegenheit der Avatar weiter stärken.«
» Mythos? Warum sagt Ihr Mythos?«
Talaban lächelte. » Wir sind nur Menschen, Questor. Aber wir brauchen diesen Mythos, um herrschen zu können.«
Talabans Ketzerei überraschte Questor Ro nicht, aber er tat dennoch schockiert. » Ihr verliert Euren Glauben, Talaban. Wir sind zur Herrschaft geboren. Und es besteht kein Zweifel daran, dass wir den niederen Lebewesen überlegen sind. Wir sind quasi unsterblich, und unser Wissen steht so weit über ihrem wie ihres über dem von Hunden steht.«
» Ganz genau, Questor. Wissen. Darauf läuft es am Ende hinaus. Wir haben die Geheimnisse der Sonnenenergie entdeckt. Sie nicht.«
» Und das beweist an sich bereits unsere Überlegenheit«, gab Ro triumphierend zurück. » Ich habe in diesen letzten siebzig Jahren unter den Vagaren gelebt. Ich weiß, wozu sie fähig sind. Sie können treu sein und auch ziemlich schlau. Aber sie besitzen bei weitem nicht unsere Einsichten. Die Avatar sind eine andere Rasse, eine vollkommen andere Spezies. Nehmt zum Beispiel Viruk. Er verkörpert alles, was bei uns Avatar für Stärke steht.«
Talaban schwieg. Ro erwiderte gelassen seinen Blick. » Sagt, was Ihr denkt, Kapitän. Seid Ihr anderer Meinung?«
Talaban lächelte. » Es ist gut, Euch bei bester Gesundheit zu sehen, Ser. Ich muss mich um Mondstein kümmern.«
Er stand auf, machte eine tiefe Verbeugung und verließ die Kabine.
Questor Ro blieb eine Weile an seinem Schreibtisch sitzen und dachte über dieses kurze Gespräch nach. Er hatte gehofft, dass Talaban den Köder schlucken und Viruk verurteilen würde. Es wäre höchst amüsant gewesen, eine solche Information an diesen Krieger der Avatar weiterzugeben.
Die beiden waren so unterschiedlich. Talaban war so kühl und beherrscht, Viruk dagegen wild und gefährlich.
Und ziemlich wahnsinnig.
Kapitel 6
Von allen Göttern, die auf der Erde wandelten, als die Sonne noch jung und nicht so stark war, war der fürchterlichste und beste Virkokka, der Gott des Krieges. Er hauste im Feuerberg, wo er Träume von Tod und Schmerz träumte. Sein Gesicht war ebenmäßig, sein Verhalten gelassen, aber jene, die sein Lächeln sahen, waren zum Tode verurteilt. Und an diesem Tag, als Virkokka den Ort des Feuers verließ, erzitterte die Welt, und alles veränderte sich für immer.
Aus dem Abendlied der Anajo
Viruk lag regungslos da und beobachtete die Reiter, als sie in das Tal ritten. Er zählte dreißig, und der Räuberbande folgten langsam fünf Planwagen. Deren Räder hinterließen tiefe Furchen auf der Landstraße. Offenbar war ihr Raubzug erfolgreich, dachte Viruk. Der Blick seiner blassen grauen Augen richtete sich auf den vordersten Reiter. Er trug einen leuchtend roten Umhang, der am Hals von einer goldenen Brosche in Form einer Sonnenrosette zusammengehalten wurde. Seine Kleidung bestand aus bunt gefärbter Wolle, einer weiten Hose und hölzernen Schuhen. Sein Bart war mit rotem Wachs bestrichen und ragte wie eine blutige Zunge von seinem Kinn hervor. Dieser Schmuck identifizierte ihn zweifelsfrei als Adeligen der
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