Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
auf die Kluft zu und zuckte nicht einmal zusammen, als die Männer um ihn herum abgeschlachtet wurden. Es war nicht Tapferkeit, die ihn vorantrieb; es war nicht einmal der Wunsch, dass die Pfeile ihn erwischten und seinem Leid ein Ende setzten. Er lief einfach nur. Das war alles. Er bewegte sich wie ein Felsblock, der einen Hang hinabrollte, oder wie Regen, der aus dem Himmel fiel. Ihnen blieb keine Wahl. Ihm auch nicht. Er war kein Mensch, er war ein Ding, und Dinge taten das, was sie tun mussten.
Die Mannschaften legten ihre Brücken dicht nebeneinander. Vier waren gefallen. Kaladins eigene Brücke hatte so viele Männer verloren, dass sie ebenfalls fast gestürzt wäre.
Als die Brücke über den Abgrund gelegt war, ging Kaladin beiseite. Die Armee marschierte über die Bohlen und begann mit dem eigentlichen Angriff. Er taumelte über das Plateau zurück. Nach wenigen Augenblicken hatte er das gefunden, wonach er gesucht hatte – den Leichnam des Jungen.
Kaladin stand da und blickte auf die Leiche hinunter, während der Wind seine Haare peitschte. Der Junge lag mit dem Gesicht nach oben in einer kleinen steinernen Senke. Kaladin erinnerte sich daran, wie er einmal in einer ähnlichen Kuhle gelegen und einen Leichnam in den Armen gehalten hatte.
Ein weiterer Brückenmann war in der Nähe gefallen; etliche Pfeile steckten in ihm. Es war der Mann, der zusammen mit Kaladin dessen ersten Brückenlauf vor vielen, vielen Wochen überlebt hatte. Sein Körper war zur Seite gesackt und lag auf einem Sims, der sich etwa einen Fuß über dem Jungen erhob. Blut perlte von der Spitze eines Pfeils, der aus dem Rücken des Mannes hervorstach. Ein rubinroter Tropfen nach dem anderen fiel in das offene, leblose Auge des Jungen. Eine kleine rote Spur zog sich von dem Auge über die Wange. Wie purpurne Tränen.
In jener Nacht kauerte sich Kaladin in der Baracke zusammen und hörte zu, wie der Großsturm gegen die Wände antobte. Er kauerte sich gegen den kalten Stein. Donner und Blitze zerrissen die Luft draußen.
Ich kann so nicht weitermachen, dachte er. Ich bin innerlich tot, so als ob mir ein Speer durch den Hals geschossen worden wäre.
Es stürmte weiter. Und zum ersten Mal seit einem Jahr weinte Kaladin.
10
GESCHICHTEN ÜBER CHIRURGEN
NEUN JAHRE ZUVOR
K al taumelte in das Operationszimmer. Die offene Tür ließ das helle, weiße Sonnenlicht herein. Er war erst zehn Jahre alt, aber es war schon deutlich zu erkennen, dass er einmal groß und schmächtig sein würde. Er zog es vor, Kal statt Kaladin genannt zu werden. Der kürzere Name passte besser zu ihm. Kaladin klang zu sehr nach einem Hellauge.
»Es tut mir leid, Vater«, sagte er.
Vorsichtig zog Kals Vater Lirin den Riemen um den Arm der jungen Frau fest, die auf den schmalen Operationstisch gebunden war. Ihre Augen waren geschlossen; Kal hatte verpasst, wie ihr das Betäubungsmittel verabreicht worden war. »Wir werden später noch über deine Saumseligkeit sprechen«, sagte Lirin und zurrte auch den anderen Arm der Frau fest. »Schließ die Tür.«
Kal wand sich innerlich und machte die Tür zu. Die Läden waren vor die Fenster gelegt, und das einzige Licht war das Sturmlicht, das aus einer großen Lampe voller Kugeln drang. Jede dieser Kugeln war ein Brom; alle zusammen stellten einen ungeheuren Geldwert dar, der Lirin vom Gutsherrn des Ortes Herdstein geliehen worden war. Laternen flackerten,
aber Sturmlicht brannte beständig. Das konnte Leben retten, sagte Kals Vater.
Neugierig näherte sich Kal dem Tisch. Sani, die junge Frau, hatte glatte schwarze Haare, unter denen sich nicht einmal eine einzige blonde oder braune Strähne befand. Sie war fünfzehn Jahre alt, und ihre Freihand war mit einem blutigen Stoff-fetzen verbunden. Kal zog eine Grimasse, als er den schlechten Verband sah; es wirkte, als sei der Stoff aus einem Hemd herausgerissen und in aller Eile um die Hand gebunden worden.
Sanis Kopf rollte zur Seite, in ihrem benommenen Zustand murmelte sie etwas. Sie trug nur ein weißes Baumwollunterhemd, ihre Schutzhand war entblößt. Ältere Jungen prahlten manchmal kichernd damit, Mädchen in Unterwäsche gesehen zu haben – zumindest behaupteten sie das –, aber Kal begriff gar nicht, was diese ganze Aufregung sollte. Er machte sich Sorgen um Sani. Er sorgte sich immer, wenn jemand verwundet worden war.
Zum Glück sah die Wunde nicht besonders schrecklich aus. Wäre sie lebensbedrohlich gewesen, hätte sein Vater schon mit der Arbeit
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