Der Weg der Könige - Sanderson, B: Weg der Könige - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1
behelfsmäßigen Verband mit einem Chirurgenmesser auf. Die Wunde schien zwar nicht lebensbedrohlich zu sein, aber die Hand war immerhin schlimm zerquetscht. Als sein Vater vor zwei Jahren angefangen hatte, Kal anzulernen, war ihm bei einem solchen Anblick übel geworden. Jetzt war er bereits an zerrissenes Fleisch gewöhnt.
Das war gut so. Kal vermutete, dass sich seine Ausbildung als hilfreich erweisen würde, wenn er eines Tages in den Krieg zog und für seinen Großprinzen und die Hellaugen kämpfte.
Sani hatte drei gebrochene Finger, die Haut war zerkratzt und zerfetzt; außerdem war die Wunde schmutzig. Den Mittelfinger hatte es am schlimmsten erwischt; er war an drei Stellen gebrochen und schrecklich verdreht. Kal ertastete ihn in seiner ganzen Länge, spürte die Bruchstellen und bemerkte die Schwärze der Haut. Sorgfältig wischte er das getrocknete Blut und den Dreck mit einem nassen Tuch ab und zupfte kleine Steinchen und Holzsplitter heraus, während sein Vater einen Faden zurechtschnitt, mit dem er die Wunde vernähen wollte.
»Der dritte Finger muss weg, nicht wahr?«, fragte Kal und legte knapp über dem Handrücken einen Druckverband darum, damit er nicht mehr blutete.
Sein Vater nickte, und auf seinem Gesicht lag die Andeutung eines Lächelns. Er hatte gehofft, dass Kal dies erkennen möge. Lirin sagte immer, ein guter Chirurg wisse genau, was er abschneiden müsse und was er erhalten könne. Wenn dieser Mittelfinger gleich geschient worden wäre … aber nein, er war nicht mehr zu retten. Wenn er ihn wieder zusammenzuflicken versuchte, würde er eitern und am Ende doch absterben.
Sein Vater nahm die Amputation vor. Er arbeitete so vorsichtig und genau. Die Ausbildung zum Chirurgen dauerte länger als zehn Jahre, und es würde noch eine ganze Zeit vergehen,
bis Lirin es Kal erlaubte, das Messer zu führen. Stattdessen wischte Kal das Blut fort, gab seinem Vater die richtigen Messer und hielt die Sehne fest, damit sie nicht hin und her schwang, während sein Vater die Wunden vernähte. Sie richteten die Hand so gut wie möglich und arbeiteten zwar schnell, aber vorsichtig.
Kals Vater schnitt den letzten Faden ab und war offensichtlich froh, dass er vier Finger gerettet hatte. Natürlich würden dies Sanis Eltern anders sehen. Sie waren gewiss enttäuscht, wenn sie erkennen mussten, dass ihre schöne Tochter nun eine verunstaltete Hand hatte. So war es fast immer. Zuerst war das Erschrecken über die Wunde groß, und dann kam die Wut darüber, dass Lirin keine Wunder wirken konnte. Er sagte, das sei so, weil sich die Bewohner des Ortes daran gewöhnt hatten, einen Chirurgen in ihrer Mitte zu haben. Für sie war Heilung kein Privileg mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit.
Aber Sanis Eltern waren gute Leute. Sie würden eine kleine Spende geben, und Kals Familie – seine Eltern, er selbst und sein jüngerer Bruder Tien – würde wieder für eine Weile genug zu essen haben. Seltsam, aber das Unglück der anderen ernährte sie auf diese Weise. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum die Bewohner des Ortes sie nicht mochten.
Lirin beendete die Operation damit, dass er jene Stellen, bei denen er den Eindruck hatte, die Naht könnte wieder aufgehen, mit einem heißen Stab ausbrannte. Schließlich strich er beißendes Listeröl auf die Hand, damit sie sich nicht entzündete. Das Öl erschreckte die Fäulnissprengsel sogar noch mehr als Seife und Wasser. Kal legte einen sauberen Verband an und achtete darauf, die kleinen Schienen nicht zu berühren.
Lirin warf den Finger weg, und Kal entspannte sich allmählich. Bald würde es ihr wieder gutgehen.
»Du musst noch an deinen Nerven arbeiten«, sagte Lirin sanft und wusch sich das Blut von den Händen.
Kal senkte den Blick.
»Es ist gut, wenn du dich sorgst«, sagte Lirin, »aber es kann schwierig werden, wenn deine Sorgen mit der chirurgischen Arbeit zusammenprallen.«
Zu große Sorgen können schwierig sein?, dachte Kal. Und warum bist du so mitfühlend, dass du niemals einen Lohn für deine Arbeit verlangst? Er wagte es nicht, seine Gedanken laut auszusprechen.
Als Nächstes musste das Zimmer gesäubert werden. Kal erschien es so, als hätte er sein halbes Leben mit Saubermachen verbracht, aber Lirin ließ ihn nicht eher gehen, als bis er damit fertig war. Wenigstens öffnete sein Vater nun die Fensterläden, so dass das Sonnenlicht hereinströmen konnte. Sani war noch immer betäubt, und die Winterwurz würde sie auch noch für
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