Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
herunter. Es gab so viele Namen, dass sie mich ganz wirr machten, und nach einer Weile versuchte ich gar nicht erst mehr, sie mir einzuprägen. Plötzlich begann ich zu frieren und zu frösteln.
Als ich fertig bandagiert war, wandte sich Hamesh Gul an mich, der den ganzen Vormittag lang fast gar nichts gesagt hatte. »Nach dem Freitagsgebet muss ich zurück zu Mehbub Khans Haus. Ich soll den Mullah mitbringen.«
Ich blieb stumm. »Wann kommst du zurück?«, fragte Tor Baz.
»Morgen vielleicht. Nach der Beerdigung.«
»Wessen Beerdigung?«, erkundigte ich mich.
»Mehbub Khans. Er starb in der Nacht.«
»Mehbub Khan ist tot?«, wiederholte ich ungläubig. »Warum hat mir niemand etwas gesagt?«
»Ja, er ist tot. Seine Söhne wünschten nicht, dass man dich damit beunruhigt. Jeder Geborene muss sterben, und nur wer ohne Söhne stirbt, stirbt unglücklich. Ich werde, so Gott will, morgen wieder da sein.«
»Ich bleibe bei ihm«, sagte Tor Baz zu Hamesh Gul.
Mein Frösteln war jetzt schlimmer geworden, und meine Begleiter bemerkten mein Unwohlsein mit einiger Sorge. Sie drängten darauf, dass wir sofort zum Heiligtum gingen, von dem Tor Baz gesprochen hatte, und sagten, mein Essen würde dorthin gebracht werden.
Der Schmerz wurde immer schlimmer, und gehen konnte ich nur noch, wenn ich von meinen zwei Gefährten gestützt wurde. Wir passierten die Hauptmoschee, wo sich bereits eine Menschenmenge zum Gebet versammelte, und betraten den Schrein direkt daneben. Meine Gefährten beteten kurz an den Gräbern und kosteten jeder eine Prise Salz, bevor sie zu mir zurückkamen. Einer von ihnen berührte meine Schläfen und wandte sich zum anderen.
»Er glüht vor Fieber.«
»Er wird nicht sehen, wie die Flaggen gehisst werden«, sagte der andere.
Ich hörte nicht mehr auf zu zittern und schämte mich dafür. Jedes Mal, wenn ich die Augen öffnete, sah ich mich zwei Lkw-Scheinwerfern gegenüber, die irgendein Gläubiger in das zementierte Grab des Heiligen, der dort lag, eingelassen hatte. Manchmal sah ein Scheinwerfer größer aus als der andere, aber ich schaffte es nicht, die Augen so lange offen zu halten, dass ich hätte beurteilen können, ob einer wirklich größer als der andere war.
Aus der Dunkelheit, die mich langsam umschloss, hörte ich ein Crescendo von Lärm, und da wusste ich, dass die Flaggen gehisst worden waren. Es war mir nicht möglich gewesen, sie zu sehen, aber eines Tages würde es mir vielleicht gelingen. Später weckten mich Geräusche. Ich konnte weiterhin die Augen nicht öffnen, aber ich hörte, dass direkt außerhalb des Zimmers, in dem ich lag, mehrere Leute standen und redeten. Das meiste blieb mir unverständlich, da sämtliche Stimmen zu einer einzigen lauten Schallwelle zu verschmelzen schienen. Wütende Stimmen warfen irgendjemandem vor, mich – einen Ausländer und Ungläubigen – hierhergebracht und damit ihr Land verunreinigt zu haben. Aus all den Stimmen hörte ich plötzlich die Stimme von Tor Baz heraus.
»Was regt ihr euch wegen dieses armen Mannes auf?«, fragte er. »Seht ihr denn nicht, dass er im Sterben liegt?«
Ein Pfund Opium
A uf der windgeschützten Seite eines hohen Felsblocks saß ein hagerer alter Mann und wärmte sich an einem niedrigen Torffeuer. Er saß seit einigen Stunden geduldig da, während die eisigen Windböen das Nahen des Winters in Ober-Chitral ankündigten. Der Wind fegte durch die Spalte und um die Seiten des Felsens und spritzte Kies und kleine scharfkantige Steine in Sher Begs Zufluchtsstätte, während dieser sich dichter an das qualmende Feuer kauerte.
Gelegentlich raffte er seinen langen weißen Bart mit der linken Hand zusammen, beugte sich vor und blies in den Rauch, bis seine Augen tränten. Sher Beg war hochgewachsen, wie die meisten Männer in dieser Region. Er hätte selbst in seinem hohen Alter noch als gutaussehend gelten können, wäre sein Hals nicht gewesen, der wegen eines Kropfes grotesk angeschwollen war. Die mit Lederriemen um seine Waden geschnürten frischen, ungegerbten Ziegenfelle standen im Widerspruch zu seiner sonstigen Erscheinung – der eines wunderlichen alten Mannes mit zerlumpter Kleidung und einem hoffnungslosen und müden Ausdruck in den Augen.
Ober-Chitral ist ein Land aus Stein. Wohin man auch blickt, sieht man Stein. Es gibt eine Vielfalt an Formen, Farben und Ausmaß der Verwitterung, aber es gibt nichts als Steine. Größenmäßig reichen sie von kleinen Sandkörnern bis hin zu zwei Stockwerke hohen
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