Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Dorfbewohner, die ihn geradezu verehrt hatten, ignorierten ihn plötzlich, ja schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, wenn er vorbeiging. Da er seinen Lebensunterhalt nicht mehr als Bergführer verdienen konnte, wurde es zunehmend schwieriger, Nahrung zu beschaffen. Seine Angehörigen, die einst stolz erhobenen Kopfes umhergegangen waren, begannen sich wie gejagtes Wild zu fühlen, als die Wut der Dörfler sich gegen sie wandte. Es kam der Zeitpunkt, da Sher Beg es nicht mehr aushielt und sein Dorf und seine Familie verließ und hinunter in die Ebene zog.
Ah, jetzt erinnerte er sich, was aus Sherakai geworden war, der »Tochter des Tigers«. Bevor er aufgebrochen war, hatte er sie jemandem verkauft, für ein Pfund Opium und einhundert Rupien.
Er blieb etliche Jahre in der Ebene, wie viele, wusste er nicht mehr; aber es verging einige Zeit, ehe er zurückkehrte. Sosehr er es auch versuchte, er konnte ohne die Berge nicht leben. Er hätte nirgendwo anders sterben können.
Bei seiner Rückkehr fand er seine Frau dabei vor, wie sie getreulich sein Stückchen Land bestellte. Sie war allein. Er wagte es nie, sie nach den Kindern zu fragen, um nicht daran zu erinnern, dass er als ihr Ernährer versagt hatte. Es war seltsam, überlegte er, das einzige Kind, an dessen Namen er sich entsinnen konnte, war Sherakai – die eine, die er eigentlich hätte vergessen haben sollen.
In Unter-Chitral hatte es in den letzten zwei Tagen immer wieder geregnet. Starke Winde hatten auf den Gipfeln gewütet und, als sie die Hohlwege hinuntergefegt waren, die hohen Kiefern umgeknickt. Manchmal trieben sie die Regenwolken auf ein Tal zu, dann ballten sie sie wieder zusammen und trieben sie in ein anderes Tal. Der Winter kam dieses Jahr früh, und die Bergbewohner fragten sich alle, ob sie es wagen konnten, noch ein paar Wochen länger in ihren Hütten zu bleiben und zu hoffen, dass die Pässe so lange noch frei bleiben würden, oder ob sie sich mit Sack und Pack, Kindern und Tieren zu ihrem alljährlichen fünfhundert Kilometer langen Zug in die Ebene aufmachen sollten. Ein paar Familien, die keine Risiken eingehen wollten, hatten schon mit den Vorbereitungen für die Wanderung begonnen.
In einer der Hütten auf Dreiviertelhöhe eines Berges in Chitral lag ein Paar eng umschlungen auf einem Gurtbett. Das jüngste Kind der beiden lag am Fußende der Pritsche. Die zwei anderen Kinder, beides Mädchen, und die Schwiegermutter bewohnten das zweite Zimmer der Hütte, die sie nachts mit den Hühnern teilten. Die Frau war, selbst nach den Maßstäben ihres Stammes, klein und gedrungen. Sie wirkte älter als ihre zweiundzwanzig Jahre. Doch sie war kräftig und voller Energie, und die Entscheidung, sich auf die Wanderung zu begeben, hatte sie nicht mehr als üblich aufgeregt. Es musste eben sein, und was spielte es da schon für eine Rolle, ob sie jetzt oder erst in ein paar Wochen aufbrachen?
Sie hatte sich von jeher glücklich geschätzt, da zu sein, wo sie war. Früher einmal, als sie acht war, hatte sie jegliche Hoffnung verloren. Damals hatte ihr Vater sie für ein Pfund Opium und einhundert Rupien an einen Kleinfürsten der Region verkauft.
Ein Jahr hatte ihre Mutter gebraucht, um das nötige Geld anzusparen, um sie zurückzukaufen, und trotzdem hatte der Fürst sich geweigert, sie gehen zu lassen. Noch heute war ihr das Entsetzen von damals gegenwärtig, als ihr Eigentümer, von ihrer Mutter angefleht, ihr Kind zu verschonen, derb gelacht und gesagt hatte: »Kind? Sie ist eine Sherakai! Ich versichere dir, wenn ein kleiner Finger reinpasst, wird sie auch keine Schwierigkeiten damit haben, ein männliches Glied aufzunehmen!« Es hatte Gebete, flehentliche Bitten und Glück gekostet – ganz zu schweigen von den Ersparnissen ihrer Mutter –, sie wieder freizubekommen, und auch das nicht bevor ihr Herr den Versuch unternommen hatte, seine prahlerische Behauptung unter Beweis zu stellen. Es war ihm nicht gelungen, und glücklicherweise hatte er sie nicht ernsthaft beschädigt.
Drei Jahre später hatte ihre Mutter es geschafft, sie zu verheiraten, und ihr Ehemann hatte sie zwei Jahreszeiten lang pfleglich behandelt, bevor er sie in sein Bett genommen hatte, und sie hatte sein verborgenes Feuer genossen. Wenn sie ihn ansah, hätte sie niemals gedacht, dass sich hinter seinem bärtigen, finsteren Antlitz so viel Leidenschaft und Zärtlichkeit verbergen könnten. In dieser Nacht hatte er sie, scheinbar nicht zu sättigen, immer und immer
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