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Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)

Titel: Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jamil Ahmad
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wieder geweckt. Sie vermutete zu Recht, dass der Gedanke, die nächsten paar Monate – die Dauer ihrer Reise – nicht bei ihr schlafen zu können, ihn zu diesen Exzessen trieb, selbst wenn es bedeutete, die Kräfte zu verbrauchen, die er für die harte Arbeit brauchte, die vor dem Beginn der jährlichen Wanderung erforderlich sein würde.
    Während sie wach lag, plante sie die Gepäckladung für jedes einzelne Kind. Das jüngste würde natürlich ihr Mann auf dem Rücken tragen müssen. Das Mädchen war zwar schon fünf Jahre alt, aber es war zu schwach, um die Tagesetappen von fünfundzwanzig Kilometern zu schaffen. Vielleicht sollten sie sie jeden Tag ein paar Kilometer laufen lassen, um ihre Beine auf die Probe zu stellen und abzuschätzen, wann sie imstande sein würde, eigene Aufgaben zu übernehmen wie ihre Schwestern.
    Sie stand zusammen mit ihrem Mann auf, nachdem sie sich wortlos verständigt hatten, die frühen Morgenstunden nach Kräften auszunutzen. Sobald sie auf war, sah sie liebevoll in das andere Zimmer, wo die älteren Mädchen in Säcken schliefen, und betete stumm darum, dass die tückischen Bemerkungen ihrer Schwiegermutter über ihre Unfähigkeit, Söhne zu gebären, ihren Mann nicht beeinflussen würden.
    Diese drei Kinder waren die einzigen, die von den fünf, die sie geboren hatte, noch am Leben waren. Im Gebirge entschied ausschließlich die Natur über das Überleben von Mutter und Kind. Es musste zeitlich genau so hinkommen, dass die letzten Tage der Schwangerschaft nicht mit der Wanderung zusammenfielen. Die meisten Kinder, die überlebten, wurden unmittelbar nach der Rückkehr ins Hochland geboren. Kamen sie zu spät auf die Welt, war es für sie wiederum schwierig, als Säuglinge die Wanderung ins Tiefland zu überstehen.
    Sie versuchte sich zu erinnern, wie viele ihrer Brüder und Schwestern überlebt hatten. Wahrscheinlich zwei Schwestern und drei Brüder – oder war es andersherum? Sie fragte sich, wo sie wohl waren – ob tot oder lebendig. Selbst ihre Namen fielen ihr nicht mehr ein. Ihr Mann hatte einmal von einem seiner Brüder erzählt, der, wie zu hören war, im Haus des Präsidenten in Rawalpindi angestellt sei. Er hatte versucht, ihn zu besuchen, war aber nicht hineingelassen worden. Das war noch vor ihrer Heirat gewesen. Dann hatte er sich den ganzen Abend lang durch die Stadt treiben lassen und das alte Luntenschlossgewehr gekauft, das er so gern auf ihren Wanderungen bei sich trug. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er jemals damit geschossen hätte.
    Nun würden sie also in ein paar Tagen losziehen. Weder Topf noch Tiegel, noch Fetzen von Stoff durften zurückgelassen werden. Ihre Habseligkeiten, säuberlich aufgeteilt in Kopflasten und Tierlasten, ihre rund zwanzigköpfige Kuh- und Büffelherde, die Hühner, geschickt auf den beladenen Tieren balancierend, der Ehemann mit der Jüngsten auf dem Rücken und sie selbst mit einem ramponierten Aluminiumkoffer auf dem Kopf, der schon uralt gewesen war, als ihre Mutter ihn ihr als Teil ihrer Mitgift gegeben hatte.
    Wandern, wandern, wandern – nachts, wenn das Gesetz es ihnen gestattete, auf den Straßen. Tagsüber waren es die Nebenwege und dann die Friedhöfe und herrenlosen Grundstücke, die die Zigeuner seit Hunderten von Jahren zum Rasten und Kochen benutzten. Immer die Ortschaften und Dörfer umgehend, wo sie nicht willkommen waren, weil die Einheimischen sagten, sie seien schmutzig, zertrampelten die Feldfrüchte und würden zum Stehlen neigen. Aus Angst, mit der Polizei in Konflikt zu geraten, machten sie um die Städte einen großen Bogen und verteilten sich auf der Ebene, wo sie sich drei Monate lang mit niederen Arbeiten durchschlugen, als Dienstboten, Lastenträger, Abdecker, was immer sie bekommen konnten, bevor sie wieder zu ihrem langen Treck zurück ins Gebirge aufbrachen.
    Als die Familie den Scheitel des dreitausend Meter hohen Lowari Tops erreichte, wie der Pass genannt wurde, war sie schon zu einer ansehnlichen Schar angewachsen. Andere Männer, manche ohne Angehörige, waren nach und nach mit ihren Rindern, Schafen und Ziegen hinzugestoßen. Eine größere Gruppe wäre gegen mögliche Gefahren nach dem Erreichen der Ebene besser gewappnet.
    Die Schikanen begannen, sobald sie bei ihrem Abstieg die Baumgrenze erreichten. Anfangs waren es nur geringfügige Ärgernisse. Sie ignorierten die Schmährufe und die Beschimpfungen und ignorierten sogar die Steine, mit denen man sie und ihre Tiere

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