Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Giganten. In der einen oder anderen Form halten Steine das Denken der Männer dieser Region besetzt, und auch Sher Begs Gedanken huschten von einem Berggipfel zum anderen. Dort lag der Berg, in dessen Schatten er geboren worden war, den größten Teil seines Lebens verbracht, geheiratet, Kinder gezeugt hatte. Dort würde er auch sterben. Rings um ihn waren die Steilhänge, auf denen er seine Tiere geweidet, und die Gipfel, die er in seinen frühen Jahren bestiegen hatte.
Weiter entfernt ragten die Massive auf, die ihm in seiner Jugend einen Lebensunterhalt geboten hatten. Den Hintergrund dieses Panoramas bildete der größte all dieser Berge – der Riese Tirich Mir.
Der größte Teil von Sher Begs Leben war um den Tirich Mir gekreist. Auf seinen Hängen war er zum Mann herangewachsen, nach wenigen Expeditionen zum Oberträger aufgestiegen und Jahr um Jahr als Hauptführer akzeptiert worden. Während all dieser Zeit hatte der Tirich Mir ihm Nahrung für seinen Körper und seinen Stolz gespendet. Die Klettersaisons waren kurz, aber auch während der langen Perioden der Untätigkeit hatte er vom Riesen geträumt – hatte die Routen, die Lager, die Lasten durchdacht, sich überlegt, wen aus seinen Trägermannschaften er abstoßen und wen er als Ersatz einstellen sollte.
Ah, das waren wahrhaft herrliche Jahre gewesen! Wenn er nicht gerade kletterte, machten sich die Männer gegenseitig auf ihn aufmerksam und sprachen von ihm als dem Tiger. Er erinnerte sich, wie sein Herz mit Stolz erfüllt war, als seine Frau darauf bestanden hatte, ihre neugeborene Tochter Sherakai zu nennen – die »Tochter des Tigers«. Ein Mann kann sich glücklich schätzen, wenn er ein Jahr dieser Art erlebt. Er war wahrhaft von Gott begünstigt, so viele davon erlebt zu haben.
Jahr für Jahr kamen die Bergsteiger. Sie wetteiferten miteinander um Sher Begs Unterstützung. Er führte sie – junge Männer, Männer mittleren Alters und alte Männer. Er brachte sie, ihre mitunter zerfetzten, zerschrammten, verkrüppelten Körper wieder zurück und verabschiedete sie, nur um sie im Jahr darauf wieder willkommen zu heißen. Nach jedem Besteigungsversuch war er es, der alles, was an überschüssigem Proviant und an Kleidung zurückblieb, unter die Dorfbewohner verteilte. Jungen und Mädchen, Frauen und Männer kamen zu ihm, um die abgelegten Sachen zu bekommen. Das waren glorreiche Jahre. Wie schnell waren sie vergangen!
Irgendwann wurde der Gipfel des Tirich Mir endlich bezwungen. Zunächst begriff Sher Beg nicht, was das bedeutete. Tatsächlich feierte er zusammen mit den übrigen Expeditionsteilnehmern und platzte schier vor Glück über den Erfolg. Erst als er es im folgenden Jahr schwierig und im Jahr danach unmöglich fand, Arbeit zu bekommen, erkannte er, was wirklich geschehen war. Nicht der Tirich Mir war besiegt worden. Es war
seine
Niederlage gewesen.
Ein Geräusch unterbrach Sher Begs Tagträume. Ein Geräusch, das im Stöhnen und Seufzen des Windes unbemerkt geblieben wäre, hätte Sher Beg nicht seit mehreren Stunden genau darauf gewartet. Das vertraute Tschuckern des Vogels. Sehr langsam stand er auf und schnallte die kleine Armbrust ab, die ihm über der Schulter hing. Er nahm einen kleinen Kieselstein aus dem Mund und legte ihn in die Ausbuchtung der Sehne ein.
Er bewegte sich langsam und lautlos, Schritt für Schritt vorwärts und spähte um die Ecke. Wenige Schritte entfernt saß auf einer Felsnase ein rundlicher brauner Vogel. Der alte Mann hob seine Armbrust und zielte sorgfältig.
Der Kieselstein knallte gegen den Felsen, auf dem der Vogel saß, und zersplitterte. Der braune Vogel schoss in die Höhe und schwirrte auf den Hang zu. Sein plötzliches Hochfliegen schreckte eine Herde von Steinböcken auf, die sich in einer Kluft gesonnt hatten. Unter leisem Klirren von Steinen, die von ihren Hufen losgetreten wurden, hasteten die Tiere mit steifen Sprüngen den Hang hinauf.
Der Jäger kehrte mutlos zum Feuer zurück und begann die Glut in eine alte Blechdose zu scharren, die er stets bei sich trug. Er war noch immer über die Feuerstelle gebeugt, als die Erde erzitterte und bebte. Leise weinte der Mann, während er darauf wartete, dass die Erschütterungen nachließen. Er hatte mittlerweile seit zwei Jahreszeiten kein Fleisch mehr geschmeckt.
Während er zum nächsten Kamm wanderte, richtete Sher Beg seine Gedanken wieder auf den Tirich Mir. Ja, mit der Bezwingung des Tirich Mir war alles zu Asche geworden. Dieselben
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