Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
hatten die Versammlung beeinflusst – die Flaggen trugen Verse aus dem Heiligen Koran und durften nicht geschändet werden; und Ghairat Gul würde ohnehin nicht das Gesicht verlieren, da er und seine Leute schon die zwei Ausländer gewaltsam aus Tirah vertrieben hatten.«
Der alte Mann lächelte. Er sah mich an und sagte: »Es war Ghairat Gul selbst, der versuchte, mir auf diese Weise aus der Patsche zu helfen. Weißt du, warum er das tat?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, gestand ich.
»Ganz einfach. Ghairat Gul wollte nicht, dass man mich vernichtete. Für die Briten wäre er nur so lange von Wert gewesen, wie ich eine Gefahr für sie darstellte. Ohne mich wäre selbst Ghairat Gul zu einem ganz gewöhnlichen armen Afridi degradiert worden.
Es war für uns beide ein glückliches Ergebnis. Die Briten waren mit Ghairat Gul zufrieden. Die Deutschen und die Türken mit mir. Die Stämme waren ebenfalls zufrieden und nahmen die Flaggen voller Begeisterung an. Sie waren wie Kinder und hätten sie am liebsten zu den geringfügigsten Anlässen gehisst. Wir hatten alle Mühe, sie davon abzuhalten und ihnen klarzumachen, dass die Versammlung der Klans nicht geringgeachtet werden darf.
Danach brach das glücklichste und freudigste Jahr unseres Lebens an. Wir hatten Geld, und wir kauften Land – wir beide, Ghairat Gul und ich. Die Leute sprachen mit Neid und Hochachtung von uns; und die Kinder träumten davon, wenn sie groß wären, ein zweiter Ghairat Gul oder ein zweiter Mehbub Khan zu werden. Das alles hat sich natürlich vor Jahren geändert. Als Männer anfingen, durch Schmuggel oder durch den Handel mit Opium und Haschisch ein Vermögen zu verdienen, träumten die Jungen nicht mehr von uns. Da hatten sie andere Hoffnungen.«
Er wandte sich zu Ghairat Gul. »Weißt du noch«, sagte er, »unser Wäscher, dessen Kinder früher immer auf die Essensreste aus waren? Sein Sohn ist jetzt der reichste Mann in Tirah.«
»Ich weiß«, erwiderte Ghairat Gul.
»Seine Frauensleute weigern sich, weiter die Wachsmalereien auf den Kleidern machen, und sie waren die Einzigen, die diese Kunst beherrschten.«
Ghairat Gul fuhr fort. »Ja, das waren gute Jahre. Die Briten hatten den Krieg gewonnen. Deutschland hatte verloren, und Russland war in die Knie gezwungen. Und selbst als die Briten keine Probleme mehr in ihren eigenen Gebieten hatten, hörte meine Arbeit für sie nicht auf. Tatsächlich bekam ich noch mehr zu tun, und manchmal musste ich sogar das Land verlassen, um bestimmte Aufträge für sie zu erledigen.«
Ghairat Gul stand auf und ging in eine Ecke, wo ein Bündel getrockneter Mohnstängel lag. Er brach ein paar Fruchtkapseln ab und zerdrückte sie zwischen den Handflächen, was ein knisterndes Geräusch erzeugte. Er zerrieb das Gemenge zwischen den Händen, blies darauf, um die Samen von der Schale zu trennen, und aß sie langsam auf dem Weg zurück zur Pritsche. Ein paar andere Männer folgten seinem Beispiel, und einer von ihnen brachte auch mir eine Handvoll Samen. Ich dankte ihm.
Ghairat Gul setzte sich und schloss die Augen. »Es dauert nicht mehr lange mit dem Essen«, sagte Mehbub Khan. Ghairat Gul öffnete die Augen und rülpste – es war ein rauer, kehliger Rülpser. Er starrte ins Feuer und schürte es, nachdenklich dreinblickend, mit der Spitze seiner Ledersandalen.
Während des Essens fragte ich Hamesh Gul, ob unser Plan, am folgenden Tag nach Bagh zu gehen, jetzt feststand. »Ja, wir werden dort unser Freitagsgebet sprechen und werden auch sehen, wie die Flaggen gehisst werden.«
»Warum werden die Flaggen gehisst?«, fragte ich.
»Um über die Zukunft unserer Schulen zu entscheiden.« Er merkte, dass ich ihn nicht verstanden hatte, und fuhr fort. »Es ist so, dass unsere Ältesten sich an die Regierung gewandt haben, und auf ihren Antrag hin hat die Regierung ein paar Schulen für unser Gebiet genehmigt und Lehrer dafür eingestellt. Manch einer ist der Ansicht, dass damit unsere Freiheit und Unabhängigkeit verletzt werden, und morgen versammeln sich die Stämme, um zu entscheiden, ob wir die Schulen behalten oder sie abschaffen.«
»Wollt ihr denn keine Schulen?«
»Mir ist das einerlei«, erwiderte er. »Ich bin sowieso zu alt, um noch etwas zu lernen, aber ich werde bestimmt gern dabei sein, wenn beide Seiten diskutieren.«
Nach dem Essen erhob sich Mehbub Khan. Er sah Hamesh Gul direkt ins Gesicht und sagte: »Weißt du, dass, wenn die Ältesten nicht um Schulen gebeten hätten,
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