Der Weg des Falken (Literatur-Literatur) (German Edition)
Für die schienen die Gujjars nicht als eigenständiger Stamm oder als Volk zu existieren. Im Lauf der Jahrhunderte waren ihnen Bescheidenheit und Demut so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie keinerlei Verbitterung darüber zeigten, als minderwertiger Menschenschlag behandelt zu werden. Sie unterwarfen sich dem Willen ihrer mächtigeren und selbstbewussteren Nachbarstämme, die ihnen das Recht absprachen, ihre Streitigkeiten selbst zu regeln, und ihnen Abgaben und Frondienst abverlangten. Darüber hinaus wurden ihnen strenge Vorschriften auferlegt, wie sie zu leben und wie sie zu sterben hatten.
Sie führten ein stilles, leidvolles Dasein auf windgepeitschten Hügelgipfeln und in dunklen, engen Schluchten, wo sie einem Boden, der so karg war, dass er niemand sonst interessierte, mühselig ihren Lebensunterhalt abtrotzten. Nach den Rechtsvorstellungen der herrschenden Stämme durften die Gujjars weder das Land, das sie bewirtschafteten, besitzen noch anderweitig Eigentum erwerben. Ihnen gehörten lediglich ihre Tiere und die paar Habseligkeiten, die sie tragen konnten.
Jahrhundertelange Schmähungen hatten diese Menschen traumatisiert. Nur sehr wenige von ihnen besaßen noch so etwas wie Stolz auf sich selbst, ihre Sprache oder ihre Kultur. Die jüngere Generation wurde von den Eltern bewusst dazu ermutigt, wo immer möglich ihre Identität aufzugeben und in anderen ethnischen Gruppen aufzugehen. Von deren Kindern kannten nur noch wenige ihre Muttersprache – sie waren froh, wenn sie Paschto mit einem Akzent lernen konnten, der ihre Herkunft nicht verriet.
Trotz ihrer Armut bewahrten die Gujjars eine komplexe Hierarchie. Diejenigen, die Büffel besaßen und die jährlichen Wanderungen mitmachten, sahen auf jene herab, die nur Ziegen hatten. Diejenigen, die ein paar in die Berghänge hineingehauene elende Äcker besaßen, hätten niemals in Gruppen eingeheiratet, die keine hatten. Es gab welche, die so arm waren, dass sie weder Tiere noch Land, noch ein Haus besaßen. Sie lebten von Almosen, und die anderen sahen mitleidig auf sie herab.
Als die neue Moschee aus Stein und Mörtel erbaut wurde, beaufsichtigte Fateh Mohammad die Arbeiten wachsam. Ja er war so kritisch und anspruchsvoll, dass der Bauunternehmer ein paarmal mit ihm in Streit geriet. Als Mullah des Ortes hatte Fateh Mohammad angenommen, dass die neue Moschee ihm anvertraut und er als amtierender Priester eingesetzt werden würde. Doch er sollte enttäuscht werden, denn nach der Fertigstellung kam auf einem Holzfuhrwerk ein kleiner, rundlicher Mann das Tal hinauf, mit einem amtlichen Brief, der ihn zum Hüter religiöser Angelegenheiten ernannte. Des Weiteren hatte er einen Lautsprecher dabei und ließ einen Verstärker für den Gebetsruf installieren.
Fateh Mohammad war ein sehr enttäuschter Mann. Ja er bekam sich schon bald mit dem neuen Prediger in die Haare und zog dabei den Kürzeren. Ein paar Tage lang brütete er über dem, was ihm widerfahren war, und trug sich mit dem Gedanken, die Moschee mit Dynamit in die Luft zu sprengen. Doch dann fand er sich mit seinem Los ab und akzeptierte die Tatsache, dass der neue Prediger für die Ortsbewohner zuständig sein würde, während ihm ausschließlich der Teil der Schäfchen verbleiben würde, die weit verstreut in den Bergen lebten.
Eine einzige Genugtuung blieb ihm. Jeden Morgen in aller Frühe, während der Verstärker noch warmlief, strömte Fateh Mohammads schöne Stimme in die Luft und rief die Gläubigen zum Gebet. Sosehr er sich auch bemühte, der neue Prediger schaffte es nie, Fateh Mohammad zu übertönen oder ihm zuvorzukommen.
Fateh Mohammad lebte mit seiner Familie in einem der alten Häuser dieser kleinen Gemeinde. Im Erdgeschoss, einem großen Raum, der normalerweise für die Tiere gedacht war, wohnten irgendwelche armen Verwandten des Eigentümers, während der erste Stock als Geste der Mildtätigkeit und Frömmigkeit Fateh Mohammad unentgeltlich überlassen worden war. Der Eigentümer, ein unverheirateter junger Mann, war vor ein paar Jahren, als er eine Stelle als Polizeibeamter bekommen hatte, in die Stadt umgezogen.
Fateh Mohammads Kinder waren allesamt Töchter. Er hatte acht davon, darunter eine achtzehnjährige von seiner ersten Frau, die im Kindbett gestorben war. An den meisten Tagen brach er früh auf, wählte eine Richtung aus und stieg hinauf, von Hof zu Hof, um seine Schäfchen zu besuchen. In der Regel kam er spätabends mit seiner Kollekte zurück, die
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