Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weg des Unsterblichen

Der Weg des Unsterblichen

Titel: Der Weg des Unsterblichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lueck
Vom Netzwerk:
hatte, ihn durchschaut zu haben, überraschte er mich erneut mit dem was er sagte oder tat. Trotzdem – oder gerade deshalb? - spürte ich in mir das Verlangen aufsteigen, hinter seiner Fassade zu kommen, auch wenn das wahrscheinlich langedauern würde. Den ersten Schritt hatte ich anscheinend getan, ohne es zu merken.
    Als ich nach Hause kam, war der Himmel bereits rot eingefärbt von der Abendsonne. Meine Mutter war noch bei der Arbeit, Malu beim Klavierunterricht, also war ich vollkommen allein. Die Stille im Haus tat für einen Moment gut, dann aber trieb sie das Gefühl der Einsamkeit wieder nach oben, das sich seit ein paar Tagen in mir eingenistet hatte.
    In der Küche wärmte ich mir das Abendessen vom vorigen Tag auf und setzte mich dann in das ausladende Fensterbrett, den Kopf an die Scheibe gelehnt. Das rote Licht schien genau hinein und blendete mich, bis ich bunte Punkte vor meinen Augen tanzen sah. Aber es war mir egal, meine Gedanken waren weit weg.
    Nero schien sich wirklich sehr für Azriel zu interessieren, und ich war mir sicher, dass er das aus einem bestimmten Grund tat. Seit ihrer ersten Begegnung wollte er ihn tot sehen. War das eine Art Instinkt oder spornte ihn die Tatsache an, dass er Azriel beim ersten Mal nicht erwischthatte? Widerwillig musste ich mir eingestehen, dass Azriel nicht ganz unschuldig war am angestachelten Ego des Unsterblichen. Warum konnte er nicht, für ein einziges Mal, seine provozierende Sprüche einfach herunterschlucken?
    Ich machte mir ernsthafte Sorgen, denn wenn ich an Neros hasserfüllte Blicke dachte und wie er das Wort »Dämon« ausgespuckt hatte…er würde auch noch zweihundert Jahre hier warten, um Azriel das Leben nehmen zu können. Was waren schon zweihundert Jahre für jemanden, der ewiges Leben vor sich hatte? Für mich allerdings waren das Größenordnungen, in denen ich nicht denken konnte.
    Mit voller Kraft biss ich auf den Löffel in meinem Mund, als könnte das die Gedanken verscheuchen. In den letzten Jahren hatte ich dank meinem Vater, Azriel und den letzten Begebenheiten einfach viel zu oft über den Tod nachgedacht.
    Plötzlich nahm ich durch das Fenster eine Bewegung im Garten wahr. Etwas erschrocken sprang ich vom Fensterbrett. Hatte ich mir dasgerade nur eingebildet? Achtlos warf ich Teller und Löffel in die silbern glänzende Spüle und lief nach draußen.
    Die Sonne war fast vollständig untergegangen und der dunkelgraue Himmel zeigte tausende, wunderschöne Lichttupfen. Unsere Hollywoodschaukel wiegte sanft im Wind der kühlen Brise, die mir um die Ohren wehte. Ich stand einfach nur da und spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten, bis sie überliefen und sich den Weg über meine Wangen bahnten.
    »Ich dachte du würdest dich freuen, mich zu sehen. Stattdessen heulst du wieder.« Azriel lachte und lehnte sich in der Schaukel zurück, seine golden funkelnden Augen ohne ein Zwinkern auf mich gerichtet. »Was habe ich diesmal falsch gemacht?«
    Ich schüttelte leicht den Kopf, da ich mich im Moment zu mehr nicht in der Lage fühlte. So unglaublich froh war ich, dass er jetzt hier war.
    »Du bist zurück.«
    »Ich war nie weg.«
    Ich schniefte und wischte mir mit dem Ärmel meiner roten Strickjacke die Tränen aus dem Gesicht. »Aber ich dachte, dass du an dem Abend im Wald…«
    »…dass ich abgehauen bin, richtig?« Als er meinen schuldbewussten Blick sah, lachte er. Ein Lachen, das nicht die geringste Spur seines üblichen Sarkasmus enthielt. Eher klang es, als hätte ich einen wirklich lustigen Witz gemacht. »Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr weggelaufen und habe es auch weiterhin nicht vor, klar? Ich ziehe doch nicht den Schwanz ein vor diesem Geflügel.« Dann senkte er auf einmal den Kopf. »Denk bloß nicht, dass ich dich im Stich gelassen hätte.«
    Fast schämte ich mich, dass ich diese Gedanken auch nur für einen Moment gehabt hatte. Hatte die Vergangenheit mich nicht eines besseren belehrt? »Ich muss dir eine Frage stellen, Azriel. Warum bist du noch hier?«
    Er lachte wieder, dann sah er mich für eine gefühlte Ewigkeit an. »Das kann ich dir nicht sagen. Jetzt noch nicht. Vielleicht irgendwann.«
    »Ok.« Mit dieser Antwort musste ich mich wohl zufrieden geben, denn seine Stimme klang endgültig. Aber mehr musste ich derzeit auch nicht hören. Azriel war hier, er würde hier bleiben und…
    »Was ist, bin ich hier hergekommen, um dir beim Heulen zuzuschauen? Sicher nicht. Also sag mir lieber, dass ihr noch

Weitere Kostenlose Bücher